Theoretische Forderungen, pragmatische Entscheidungen
Zur musikalischen Verwirklichung komplexer Proportionen
von
Herbert Henck
Anknüpfend an meinen kleinen Aufsatz Ein einfaches Verfahren zur Abbildung komplexer rhythmischer Proportionen sollen
hier einige kurze Betrachtungen folgen, welche mehr die interpretatorische Seite und Ausführung rhythmischer Schwierigkeiten berücksichtigen. Ist nämlich nach mannigfachen Überlegungen und vorbereitenden
Berechnungen zunächst einmal theoretisch geklärt, was der Komponist auf seine Weise ausgedrückt hat, so schließt sich doch unmittelbar die Frage an, wie präzise dies alles ins Hörbare umzusetzen ist. Wie
genau soll und kann man das spielen und hören, wenn beispielsweise 7 gegen 13 Anschläge zu verteilen sind oder ein Metronomwert von 72,5 gefordert wird?
Fragen dieser Art lassen sich freilich nicht mit zwei Worten beantworten, es sei denn, man lasse für die einzuschlagende Richtung den Leitsatz „möglichst genau“ bereits gelten. In
dem „möglichst“ stecken indes all jene Dinge, die zu mehr oder minder großen Abweichungen von einem mathematisch berechenbaren Ideal führen, das es zwar in der Notation, nicht jedoch in der klingenden
Wirklichkeit gibt. Denn allemal verändern verschiedenste Einflüsse und Umstände das Ergebnis – bedenkt man etwa Art und Zustand des gespielten Instruments, die akustischen Verhältnisse des Raumes, in dem
man spielt, oder die ganz eigenen technischen, musikalischen und psychologischen Voraussetzungen, die ein jeder Spieler als Bildung und Erfahrung mitbringt. Eine oder gar mehrere dieser ihrerseits vielfach sich
verzweigenden Komponenten standardisieren zu wollen, käme einem Verstoß gegen den Gedanken der Interpretation gleich, abgesehen davon, dass genaue Wiederholungen im Grunde unmöglich sind und Duplikate aus
künstlerischer Sicht ohnedies wenig Wünschenswertes haben. Das Lebenselixier der Interpretation ist Erneuerung, nicht Immergleichheit. Hinzu kommt aber auch die unterschiedliche Auffassungsgabe von Hörern, die
so breiten Schwankungen unterliegt, dass sie sich als Bezugspunkt ebenso wenig eignet wie das Vorgenannte.
So besteht der erste Schritt des Spielers zunächst darin, die vorliegende rhythmische Notation intellektuell zu durchdringen und zu prüfen, was mit welchen Mitteln auf dem Papier
festgehalten ist. Ist diese Hürde des Verstehens genommen, setzt wohl oder übel ein Anpassungsvorgang ein, der das theoretisch Erkannte mit dem praktisch Ausführbaren verbindet, das Ideale unter den je anderen
Voraussetzungen ins Machbare umsetzt. Hierbei entstehen eine ganz persönliche Pragmatik und Aussage, die nur noch im Einzelfall zu rechtfertigen sind. Wie perfekt oder perfektionistisch man dabei wird und wie nahe
man seinem Ziel kommt, sei dahingestellt; das Maß der Genauigkeit lässt sich von außen nur schwer beurteilen, allenfalls maschinell messen und vergleichen, nicht aber sich einem Menschen vorschreiben und schon gar
nicht erzwingen. Was dem einen als Eigenmächtigkeit erscheint, kann für den anderen ausdruckssteigernd sein. Eine Notwendigkeit, die Komponisten hierbei als „oberste Instanz“ heranzuziehen, ist
jedenfalls nicht gegeben und wäre meines Erachtens oft auch verfehlt, denn sie können dem Interpreten durch nachträgliche Ratschläge und Autorisationen letztlich nicht die Verantwortung für die notwendigen
Entscheidungen und Kompromisse abnehmen. Man befindet sich als Spieler hier in einem Stadium der Interpretation, nicht dem einer mechanischen Reproduktion, für die es ja eigene komplexe Maschinen gibt.
Das Vordringen in rhythmisch anspruchsvollere Bereiche kann jedenfalls kein Selbstzweck sein, sondern sollte stets neben einer gewissen Neugierde auch von einem Mindestmaß an Verständnis,
Gefallen und Wohlwollen gegenüber der Musik getragen sein. Ansonsten bewährt sich hier zunächst eine Langsamkeit der Politik der kleinen Schritte, in der jedes Detail hörbar und spielbar ist. Wie groß allerdings die
Spannweite individueller Lösungen sein kann, mögen zwei Beispiele erläutern, auch wenn ich keines von beiden zur Nachahmung empfehlen möchte.
Als ich in Studententagen in einem Rundfunkorchester gelegentlich Aufgaben im Bereich der zeitgenössischen Musik übernahm, gab es in einem Klavierpart einmal eine recht heikle rhythmische
Notation. Zwar war ich in der Lage, mir den Text einzurichten, doch da der gleichzeitig agierende Cembalist Ähnliches auszuführen hatte, war ich neugierig, zu welcher Lösung er gelangt sei. So ging ich in einer
Pause zu ihm und erkundigte mich, was er an der fraglichen Stelle mache. Die Antwort des älteren Herrn überhob mich freilich aller weiteren Diskussion, denn er meinte nur trocken:
„Da zisch’ ich vorher ’nen Schnaps – dann stimmt’s!“
Die andere Begebenheit erlebte ich nicht selbst, sondern sie wurde mir erzählt. In einem Stück für Schlagzeug von John Cage gab es eine Stelle, für die der Spieler mindestens
einer doppelten Anzahl von Händen bedurft hätte, um gleichzeitig oder in kürzester Frist seine sämtlichen Instrumente zu erreichen und anzuschlagen, wie es die Noten verlangten. Es war nicht zu schaffen, so viel er
auch übte. Und doch fand er eine Lösung. Als die schwere Stelle in der Aufführung kam, nahm er eine Handvoll getrockneter Erbsen, warf sie in die Luft und ließ sie auf sein Schlagzeug regnen. Es entstand eine
gänzlich unwiederholbare, in der Einzelheit gar nicht kontrollierbare Musik, die etwas hervorbrachte, das dem Buchstaben zwar untreu wurde, gleichwohl dem Geist des Notierten umso mehr entsprach. Cage, welcher der
Aufführung beiwohnte, sei so überrascht wie angetan gewesen.
Erstdruck als Theoretische Forderungen, pragmatische Entscheidungen [Kolumne 3], in: Piano NEWS, Magazin für Klavier und Flügel, hg. von Carsten Dürer, Heft 4/2004, Düsseldorf: Staccato-Verlag, Juli/August 2004, S. 56-57. Durchgesehene und überarbeitete Fassung.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Erste Eingabe ins Internet: Sonntag, 23. September 2007
Letzte Änderung: Mittwoch, 27. April 2016
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