|  |   Vor dem Anfang, nach dem Ende An den Rändern der Interpretation   von Herbert Henck     Keine Musik ohne Klänge, doch auch keine ohne einen Moment der Stille – zumindest jenen vor Beginn und jenen nach dem Ende der Musik. Bildet das Davor und Danach, das noch nicht 
                                oder nicht mehr in den Noten steht, eine Zone der Ruhe, einen Rand, der gleich einem Rahmen das Gemälde von der Tapete, die Kunst vom Alltag absetzt, beide jedoch auch vermittelt, so steht die Stille 
                                als Pause im Innern der Musik ganz im Dienst der nur ihr eigenen Gesetzlichkeit und ist urheberrechtlich schützbarer Teil der Komposition. Hier erfüllt sie als kurze Zäsur, als Abbruch oder Schweigen, als 
                                General- oder Satzpause Aufgaben der klingenden Architektur, lässt den Atem des Ganzen vernehmen, gliedert die Musik im Großen wie im Kleinen, schafft einmal die Möglichkeit zur Besinnung und Sammlung, holt ein 
                                andermal aus und schöpft Kraft für den Aufschwung des Kommenden. Schroff, brüsk und technisch nüchtern strukturierend oder gefühlvoll den Wandel der Stimmungen sondernd trägt sie maßgeblich bei zur 
                                Gestalt der Musik. Ein Teil der Verantwortung mag zwar an die Spieler übergehen, damit diese an der Dauer der wie immer begründeten Unterbrechung aktuell mitwirken (etwa um die Wiedergabe den akustischen 
                                Verhältnissen anzupassen), doch die Stellen, an denen solches geschieht, sind von den Komponisten im Allgemeinen wohl bedacht, und der Spielraum bleibt somit eng. In der Moderne werden die Grenzen zwischen Stille und Musik allerdings fließend. Ob ein Klang oder Geräusch bereits dem Anfang eines Stückes zugehört und damit bereits Musik ist 
                                oder noch zu ihrer Umgebung, dem Vorfeld, zu rechnen ist, lässt sich im Konzert manchmal nur schwer entscheiden (anders bei Tonaufnahmen, wo man gewöhnlich einen korrekten Schnitt voraussetzen darf und Fragen 
                                dieser Art eher selten auftreten). Noch schwerer und ungewisser ist freilich das Umgekehrte, nämlich die Unsicherheit, wo und wann ein Musikstück genau endet. Letzteres mag für den Spieler, der die Noten kennt, 
                                eindeutig sein; für den Konzertbesucher, der sich an dem Verhalten der Musiker auch optisch orientiert, ist es allemal das Heiklere. Denn wer will es wagen, den ersten Stein zu werfen oder die Hand zum Applaus 
                                zu erheben? Man kennt ja die Musik nicht, und wie soll man denn wissen, welches der letzte Ton war? Nicht alle Werke enden so bestimmt wie Ravels „Boléro“, und ich hörte gar von einem Klavierimprovisator, 
                                der vor Publikum auf der Bühne während seines Spiels, das ohnedies große Pausen enthielt, einschlief und schließlich geweckt werden musste. Dies mag die Ausnahme sein; doch setzte man bei zeitgenössischer Musik 
                                allzu beherzt mit dem Klatschen ein, könnte man leicht mutterseelenallein auf weiter Flur bleiben. Alle könnten sich entrüstet nach dem Störenfried umdrehen, der seine im Grunde ja verzeihliche Unkenntnis und 
                                Voreiligkeit so offen zur Schau trägt und der plötzlich nur noch den dringenden Wunsch verspürt, der Boden möge sich unter ihm öffnen und ihn, den Solisten wider Willen, gnädiglich verschlingen. Mancherorts 
                                wird gleichwohl noch immer nach jedem Lied der „Schönen Müllerin“ oder jedem Satz einer klassischen Sonate auf  Gedeih und Verderb applaudiert – sei es um dem Stau der Gefühle Luft 
                                zu machen oder Betroffenheit und Begeisterung kundzutun, so lästig das wiederholte, immer mehr zur Andeutung geratende Aufstehen und das immer bemühter dankende Zunicken und Verbeugen den Musikern auch sein 
                                mag. Da bedarf es doch schon klarer, verständlicher Signale von Seiten der Spieler, um jedem sein Revier zuzuweisen und keine Peinlichkeit aufkommen zu lassen, Signale, die dem Publikum 
                                auch bewusst machen, dass man ihm dieselbe Kenntnis zubilligt, über die man selbst als innig mit den Noten Vertrauter verfügt, Signale, die keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, wo das letzte Wort gesprochen 
                                wurde und wo der Punkt hinter dem Satz anfällt. Musiziert man mit anderen zusammen, überlässt man die Angelegenheit besser nicht dem Zufall, und zur Vermeidung von Pannen empfiehlt sich die Absprache, 
                                ja selbst eine kleine Probe, was man vor dem ersten und nach dem letzten Ton zu tun beabsichtigt, wer am Ende welches Zeichen gibt, sich gemeinsam zu erheben, wer vorausgeht, wer folgt, und dergleichen 
                                mehr. Musik bedeutungsschwanger im Unfasslichen aushauchen zu lassen und so zu tun, als vergeistige sie sich aus der Beschränktheit des Raumes in die Unendlichkeit des Alls und man bräuchte eigentlich 
                                vier, wenn nicht acht Ohren, um die letzten nachzitternden Schwingungen noch zu erhaschen, all das kann schön und recht sein, erscheint mir aber meist als Zuviel des Guten und Ausdruck der Künstelei, welche die 
                                Unsicherheit in der Kommunikation überspielen möchten und hinter denen sich das Unvermögen, deutlich zu schließen, ebenso birgt wie hinter einem stur abwartenden Aussitzen auf der Bühne, bis sich im 
                                Publikum endlich Mut genug zum kollektiven Vorstoß gesammelt hat. Die Art, Musik zu beenden und seine Hörerschaft so behutsam wie verbindlich zurückzugeleiten und aus der inneren Anteilnahme in die außermusikalische Wirklichkeit zu begleiten, ist ein 
                                Vorgang, der in einer künstlerisch anspruchsvollen Darbietung jedenfalls ebenso bedacht werden sollte wie die Umstände des Auftretens und Beginnens. Feste Regeln gibt es, wie so oft in der Kunst, für beides 
                                nicht, und es bleibt jedem Einzelnen überlassen, sein Gespür für das Eigenleben dieser Ränder der Musik zu entwickeln oder nicht. Man stößt vielleicht nicht von heute auf morgen auf die richtige Lösung, 
                                doch im Grunde bietet jedes Konzert und jede Teilnahme an einer musikalischen Veranstaltung dem Aufmerksamen Anschauungsmaterial, anhand dessen sich der Blick und das Verständnis für das Geschehen zu öffnen, 
                                schulen und schärfen vermag. Verbindet man diese Erfahrung mit dem, wie man sich selbst gerne als empfindlich Hörender behandelt sehen möchte, wird man bald das Angemessene finden.   Erstdruck als Vor dem Anfang, nach dem Ende. An den Rändern der 
                                Interpretation (Kolumne), in: Piano NEWS. Magazin für Klavier und Flügel, Heft 1/2005, Düsseldorf: Staccato-Verlag, Jan./Febr. 2005, S. 36 f.      Erste Eingabe ins Internet:  Donnerstag,  27. April 2005
                                Letzte Änderung:  Montag,  25. April  2016
 
 
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