Vor dem Richter
von
Herbert Henck
Ein Bauer, mit dem ich mich, seinen Vorschlag aufgreifend, nach kurzer Unterhaltung duzte, erzählte mir die
folgende Geschichte.
Es war in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Autos waren damals noch nicht so verbreitet wie
heute, und wohnte man auf dem Lande und kam selten in die Stadt, hatte man bisweilen Mühe, Notwendiges zu beschaffen. So übertrug man einige Besorgungen einem alten Mann mit langem weißen Bart, der nicht nur ein
Auto besaß, sondern auch öfters in der Stadt zu tun hatte und als zuverlässig galt. Er sammelte die kleinen Aufträge, kaufte das Verlangte und lieferte es bei den Auftraggebern ab, worauf man ihm seine Auslagen
erstattete und wahrscheinlich noch eine Kleinigkeit als Trinkgeld für seine Gefälligkeit hinzufügte. Das Verfahren bewährte sich über die Jahre.
Eines Tages kam es jedoch zu Unstimmigkeiten. Ein Auftraggeber behauptete nämlich, der alte Mann habe ihm nach
seiner Bezahlung mit einem größeren Schein zu wenig Wechselgeld herausgegeben. Der Alte war sich keiner Schuld bewusst, prüfte sein Geld im Portemonnaie, zog seine Papiere zu Rate, schüttelte den Kopf und sagte,
nicht nur seine Abrechnung, sondern auch der Betrag, den er zurückgegeben habe, seien korrekt gewesen. Der Streit steigerte sich, härtere und lautere Worte fielen, und da keiner nachgeben wollte, schaltete der
angeblich Geschädigte schließlich die Behörden ein und erstattete Anzeige, denn es ging ihm nicht nur um sein Geld, sondern auch um sein Recht und seinen guten Ruf. So kam der Fall vor ein Gericht.
Nach den üblichen Schritten wurde eine Verhandlung anberaumt, und der Richter hörte sich die Aussagen beider
Seiten nochmals an. Da er vielleicht Zweifel hatte, ob der Beschuldigte auf Grund seiner vorgerückten Jahre nicht etwas vergesslich geworden sei, empfahl ihm der Richter, es doch zuzugeben, falls ihm
tatsächlich ein Irrtum bei der Abrechnung oder Geldrückgabe unterlaufen sei. Die Angelegenheit sei aus seiner, des Richters Sicht ja nichts Schwerwiegendes, sondern eher ein Versehen, allenfalls eine Fahrlässigkeit,
und von einem Vorsatz, sich widerrechtlich etwas anzueignen, sei nichts erkennbar. Daher sei das Ganze keines großen Aufhebens wert und nur als Bagatellfall einzustufen. Nach Aktenlage und aufgrund der mündlichen
Aussagen lasse sich die Angelegenheit auch ziemlich einfach aus der Welt schaffen, doch sei zuvor Wahrheit vonnöten, denn nur diese werde allen Beteiligten Klarheit erbringen und das Verfahren zugleich
erheblich beschleunigen.
Das Ansinnen, geständig zu sein, erboste den Angeklagten, und zornig beteuerte er dem Richter nun erneut seine
Unschuld: „Also das sag ich dir: Bei mir hat es in all den Jahren nie Ärger gegeben. Wenn ich jemandem Wechselgeld rausgebe, dann zähl’ ich das lieber zweimal nach, und dann stimmt das auch!“
Der Richter nahm dies zur Kenntnis und erwiderte, dass er den Unmut des Mannes gut verstehe, dass es aber
nicht üblich sei, einen Richter während eines Rechtsstreits, den er zu schlichten habe, zu duzen, und er müsse den Angeklagten ersuchen, sich gleich allen anderen Beteiligten dieser Regelung zu befleißigen.
Diese Ermahnung erzürnte den alten Mann, der mit den Gepflogenheiten vor Gericht nicht vertraut war, in noch
höherem Maße, denn sie erschien ihm als ein halber Schuldspruch und ließ ihn die Brücke übersehen, die ihm der Richter hatte bauen wollen. Und in der Meinung, wenn man schon Gott im Gebet duze, dürfe man diese
Anrede gewiss auch von Mensch zu Mensch gebrauchen, wies er mit ausgestrecktem Arm zum Himmel hinauf und fuhr den Richter an: „Willst du vielleicht was Besseres sein als der da oben …!?“
Was der Richter, der sich nun seinerseits zu einer Rechtfertigung aufgerufen sah, darauf antwortete, ist mir
ebenso wenig bekannt wie der Ausgang des Verfahrens.
März 2009
Aufgrund einer wahren Begebenheit, die mir 2005 erzählt wurde.
Erste Eingabe ins Internet: Dezember 2014
Letzte Änderung: Dienstag, 3. Mai 2016
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