Im Streit um Bach

 

Im Streit um Bach

 

 

von
 

Herbert Henck

 

 

Vor einigen Monaten war ich eingeladen, bei einem Wochenend-Festival im Schweriner Kunstmuseum Hans Ottes „Buch der Klänge“ aufzuführen, und wie gewöhnlich diente der Vormittag des Konzerttages dazu, Saal und Instrument kennen zu lernen. Beide erwiesen sich als bemerkenswert. Denn bei dem Flügel handelte es sich um einen sehr guten, eigens aus Hamburg herbeigeholten Steinway, nicht zu neu und nicht zu alt; und bei dem Saal um einen großräumigen Ausstellungssaal, dem sein kostbarer Intarsienboden, Tageslicht von der hohen, gläsernen Decke und manch altertümlicher Zierat Glanz und Charakter verliehen. Ausgewählte niederländische und französische Malerei des Barock schmückte rings die Wände, im Zentrum Gainsboroughs Darstellung der Königin Charlotte von England. Gleich beim Eintritt in das obere Stockwerk war ich Bildern von Cranach begegnet, die ich aus Büchern kannte, und in den umliegenden Räumen fand ich Gemälde von Frans Hals, einen Rembrandt sowie viele mir unbekannte Meister der Vergangenheit, die sämtlich zu betrachten und zu bewundern ich leider nicht die Zeit hatte.

Die Veranstaltung und meine jetzige Probe waren somit von hohen und höchsten Werken und Werten der Kunst umrahmt, und es war schwer, mich diesen vielfältigen Eindrücken zu verschließen und einzig auf die Musik zu achten, denn der Blick fiel, auch ohne es zu wollen, immer wieder auf die Bilder.

Wie dem auch sei, der Flügel gefiel mir mehr und mehr, und da ich mich zunehmend in die angenehm tragende Halligkeit des Raumes einhörte und meine Hände und die Tasten sich erwärmten, spielte sich hier vieles leicht und flüssig, was unter anderen Bedingungen der Aufmerksamkeit, wenn nicht der Vorsicht bedurft hätte. Die wenigen Museumsbesucher, die sich an diesem Morgen, einem Samstag, eingefunden hatten, hielten sich höflich im Hintergrund, gingen leise an den Gemälden entlang, verweilten bei dem ein oder anderen und flüsterten gelegentlich ihre Bemerkungen einander zu, blieben indes stets unter sich und störten daher in keiner Weise.

Da ich nun immer mehr Lust am Spielen verspürte, ging ich von jenen Stücken, die ich am Nachmittag und Abend darzubieten hatte, zu anderen Werken über, und da Bachs Musik jene ist, die ich seit Jahren am liebsten spiele und zu der ich immer von Neuem mit Gewinn an Geist, Leib und Seele zurückkehre, nahm ich mir das ein oder andere Stück aus der Kunst der Fuge sowie mehrere Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier vor. Alles klang frischer, reiner und freier als seit langem. Die Finger fanden wie von selbst in die ihnen vorgezeichneten Bahnen, die Melodien verwoben sich in gewünschtem Wechsel, das Gedächtnis spielte mir keine Streiche, und ich erfreute mich sehr der Musik, der ich mancherorts fast wie ein Unbeteiligter und gar nicht selbst Musizierender zuzuhören vermochte. So und nicht anders musste das alles klingen, zumindest hier und heute.

Dass inzwischen neue Besucher den Saal betreten hatten, kümmerte mich nicht, denn zu selten ergaben sich Situationen wie diese, in denen sich alles harmonisch fügte, und ich hätte es mir nur schwer verziehen, aus lauter Rücksichtnahme die Gelegenheit nicht zu nutzen, ja zu genießen.

Doch nachdem ich eines der G-Dur-Präludien in einer zwar abenteuerlichen, mir aber durchaus angemessen, wenn nicht notwendig erscheinenden Geschwindigkeit beendet hatte und zur Fuge schreiten wollte, trat wie aus dem Nichts heraus ein Mann mittleren Alters an meine Seite und bemerkte spitz:

„Da haben Sie den Bach aber ganz schön vergewaltigt …!“

Meine eben noch empfundene Freude an der Musik brach jäh in sich zusammen, und mein heiterer Morgen bewölkte sich. Unmut, ja Zorn stiegen in mir auf. Nicht dass ich irgendeine Äußerung des Gefallens erwartet hätte; ich war schon dankbar, wenn man mich in Frieden musizieren ließ. Doch dass sich hier plötzlich jemand ungebeten und ungeniert zum Oberpriester und Kunstrichter über mein Klavierspiel aufwarf und mir in die Suppe spuckte, war irritierend.

„Das war doch Bach, was Sie da eben gespielt haben …?“

„Ja, das war Bach!“, murmelte ich gereizt.

Wie bedauerte ich später, in diesem Moment nicht über jenen Blick Napoleons zu verfügen, über den Goethe, so Eckermann, sich einst am Familientisch so amüsiert hatte – einen einzigen, wortlosen, aber kaiserlich vernichtenden Blick, der genügt hatte, einen aufdringlichen Modehändler so gehörig in seine Schranken zu verweisen, dass dieser unverzüglich und auf Nimmerwiedersehen das Weite suchte.

Doch derlei Blicke standen mir nicht zu Gebote, und so erhob ich mich und ereiferte mich in verbalem Angriff.

„Vielleicht haben Sie ja Bach vergewaltigt mit Ihren Vorstellungen, wie man ihn richtig zu spielen habe …!?“, putzte ich meinen Kritiker. Und mit einem Wink auf den Flügel und die verwaiste Klavierbank: Solle er sich doch hinsetzen und es besser machen, wenn er könne.

Er könne natürlich nicht so gut Klavier spielen wie ich, räumte er ein, doch ich roch seinen Vorbehalt und dass er durchblicken lassen wollte, man bräuche gar nicht so gut Klavier zu spielen, um alles ganz anders und natürlich auch viel besser zu machen.

Das Fass lief über. Ich wies mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger in Richtung des Eingangs und sagte, die Türen seien ja nicht abgeschlossen; und wenn es ihm nicht passe, wie ich Bach spiele, dann bestünde dort die Möglichkeit, den Raum zu verlassen. Ich sei hier, um den Flügel und den Saal für ein Konzert kennen zu lernen, hätte aber weder Zeit noch Lust, mich mit ihm über seine Vorstellungen der Bach-Interpretation zu zanken und wünschte keine weiteren Schulmeistereien. Guten Tag, der Herr.

Damit setzte ich mich zurück an den Flügel, begann verdrossen in meinen Noten zu nesteln, dies und jenes überflüssigerweise neu zu ordnen und auszurichten, bis der Biedermann, der erkennen musste, dass ich zu keinem weiteren Gedankenaustausch oder Griff in die Tasten mehr bereit sei, sich grummelnd aus dem Raum entfernt hatte.

Ein berühmter Maler der Moderne wurde einmal von einer Dame vor einem seiner Bilder darauf hingewiesen, dass so eigentlich eine Vase nicht aussehe; hier sei sie zu lang, dort zu schräg und so weiter. Worauf der Meister entgegnete: „Gnädige Frau, das ist keine Vase, das ist ein Gemälde!“ – Die Übertragung auf den geschilderten Kasus fällt nicht schwer, denn zweifellos hätte meine erste und einzige Antwort lauten sollen: „Mein Herr, das war kein Bach, das war eine Interpretation!“

 

 

Erstdruck in: PIANO News. Magazin für Klavier und Flügel, Heft 2, 2004, Düsseldorf: Staccato-Verlag, März/April 2004, S. 14 f. – Überarbeitete Fassung. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

 

Erste Eingabe ins Internet:  Mittwoch,  25. Juli 2004
Letzte Änderung:  Dienstag,  3. Mai  2016

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