Die Notbremse
von
Herbert Henck
In seiner Mannheimer Zeit kam mein Vater, der damals am Landesgefängnis als Anstaltsarzt arbeitete, mit einer Vielzahl von Menschen
der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammen, Menschen, die entweder straffällig geworden oder in den Verdacht eines ungesetzlichen Tuns geraten waren. Regelmäßig verfasste er psychiatrische
Gutachten über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Inhaftierten, und öfters erzählte er zu Hause von Fällen, mit denen er sich gerade beschäftigte. Auf eine solche Erzählung geht die folgende Begebenheit
zurück, die sich vermutlich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zutragen hatte.
Drei junge Männer fuhren auf der hinteren Plattform einer Mannheimer Straßenbahn, und zwei von ihnen hatten sich abgesprochen, dem Dritten, der geistig
etwas zurückgeblieben und unschwer zu hintergehen war, einen Streich zu spielen. Zu diesem Zweck verkündete der eine des Pärchens großspurig, er werde jetzt gleich die Notbremse ziehen, um auch ohne Haltestelle
einmal dort auszusteigen, wo es ihm am bequemsten sei und er nicht, wie sonst immer, ein Stück weit zurücklaufen müsse. Dabei fasste er den roten Handgriff der Notbremse, tat aber nur so, als ob er daran zöge. Trotz
seiner Bemühungen ließ sich die Notbremse scheinbar nicht bewegen. „Ei, da muss was kaputt sein! Versuch’s du mal!“ sagte er scheinheilig zu seinem Komplizen. Auch dieser tat, wie verabredet, nur so, als
ob er sich bemühe, die Bremse zu ziehen, ließ Hand und Arm zittern, die Knöchel der Faust hell hervortreten und verzog sein Gesicht vor Anstrengung. Doch schien auch er keinen Erfolg zu haben. Nach kurzem gab er auf
und sagte etwas ärgerlich zu dem Dritten, dem Opfer der Übung, dass die Bremse festgerostet sein müsse. Sie lasse sich keinen Millimeter bewegen. Er könne es ja selbst versuchen, vielleicht habe er mehr Glück.
Solchermaßen herausgefordert erwartete der Dritte schwere Arbeit, holte tief Luft und riss mit aller Gewalt an dem Griff. Es gab einen Ruck durch die
Straßenbahn, man stolperte und stieß gegeneinander, Einkaufs-, Akten- und Schultaschen fielen um, und im Nu kam die Bahn zum Stehen. Die Leute lärmten und sahen aus den Fenstern, was das scharfe Bremsen zu bedeuten
habe und ob vielleicht ein Unfall geschehen sei. Autos hupten, da man sich ärgerte, dass die Straßenbahn so plötzlich stehengeblieben war, und der Schaffner kämpfte sich durch den Wagen, um nach dem Rechten zu
sehen, das Übel zu beseitigen und unter Umständen Hilfe zu leisten. Auf seine Frage, wer die Notbremse gezogen habe, zeigte man auf den Verantwortlichen, der überrascht merkte, dass er plötzlich im Mittelpunkt des
Interesses stand und dem noch gar nicht bewusst war, dass er aufs Glatteis geführt worden war. In seiner Arglosigkeit erzählte er die Vorgeschichte. Da sich seine Freunde in dem allgemeinen Trubel aber
schnell unsichtbar gemacht hatten und niemand auf die jungen Leute geachtet hatte, schenkte man seinen Worten wenig Glauben. Man schimpfte, sprach von grobem Unfug, Anzeige, Geldstrafe, Halbstarken, Zeitverlust, dem
Fahrplan und anderem mehr und holte schließlich einen Polizisten herbei, um die Personalien des Schuldigen aufzunehmen und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.
So kam der junge Mann, der sich nicht ausweisen konnte, nach mehreren Stationen ins Untersuchungsgefängnis, und mein Vater erhielt nach Übersendung der
Akten alsbald den Auftrag, den Delinquenten auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit hin zu begutachten.
Oktober 2007
Aufgrund einer wahren Begebenheit. Abgedruckt im autobiografischen Teil Mannheim, Kap. 3, Abs. 8–10.
Erste Eingabe ins Internet: Dezember 2014
Letzte Änderung: Dienstag, 3. Mai 2016
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