Magnolien und noch ein Problem

 

Magnolien und noch ein Problem

 

 

von
 

Herbert Henck

 

 

Er suchte nach einem blühenden Magnolien-Baum, im Frühling einer der ersten blühenden Bäume, um an einer Blüte zu riechen und deren Aroma kennenzulernen. Eine Freundin, die nach Kalifornien gereist war, war diesem Baum in Blüte bereits begegnet. Jede Beschreibung seines Geruchs war, so schien es, von subjektiven Anschauungen gefärbt und beruhte auf ganz persönlichen Übereinstimmungen, Abweichungen und Unterschieden. So kam zur Bildung einer eigenen Meinung wohl nur das eigene Riechen an einer Blüte in Betracht, um sich ein Urteil zu bilden, da man sich nur schlecht über Gerüche literarisch informieren kann und der eigenen Erfahrung gewöhnlich wenig im Wege steht.

Sehr gerne benutzte er in dieser Zeit ein ätherisches Öl, das den Geruch von Mandarinen mit jenem von Magnolien verband. Da ihm jedoch nur der Geruch von Mandarinen vertraut war, stand dieser immer im Vordergrund. Der Geruch von Magnolien musste dagegen keineswegs aufdringlich und ein zurückhaltender, dezenter sein, welcher das Mandarinenaroma nur auf angenehme Weise ergänzte. Ohne selbst in einer Mischung die Hauptsache zu sein, verfeinerte und verstärkte er wohl zugleich, was aber durchaus zur Schönheit des gesamten Aromas beitrug. Vielleicht kam ein leichter Hauch von Zimt hinzu. Indes war es zwar möglich, dass das Magnolien-Öl eines zweiten exotischen Namens (man glaubt ja, Magnolienholz müsse allein wegen seines Namens schon aromatisch sein) mit dem Mandarinen-Öl vermischt wurde, doch war solches eher unwahrscheinlich. Hätte er reines Öl von Mandarinen besessen, so hätte er womöglich den Unterschied zu der Mischung, die vielleicht sogar ein Quentchen Vanille enthielt, bemerkt.

In einem Vorgarten entdeckte er bald jedoch einen Magnolien-Baum, der kurz vor der Blüte stand, und die kräftigen weißlichen Knospen waren noch alle geschlossen. So bat er den Eigentümer um die Erlaubnis, nach dem Erblühen des Baumes seinen Garten betreten und an den Blüten riechen zu dürfen. Mit etwas misstrauischen Blicken und vielleicht gar zweifelnd an seiner Redlichkeit wurde ihm die offenbar seltsame Bitte aber gewährt, nachdem er sein Anliegen näher erklärt hatte. – Täglich ging er nun an dem Baum vorbei, um sein Blühen zu erleben. Und er würde auf die Mittagsstunde warten, in welcher bei Sonnenschein die Blätter vom Tau getrocknet wären und sein Geruch sich dann ungehindert entfalten könne.

Inzwischen hatte er sich in einer Apotheke nach reinem Magnolienöl erkundigt, das man aber nicht vorrätig hatte und erst bestellen müsse. Doch verzichtete er lieber darauf, denn ein gewisser Zauber gehörte zum Erblühen hinzu, auf den man nicht wie etwas Bestelltes warten konnte. Aber er erfuhr von dem Apotheker nebenbei, dass Magnolien auf die Stimmung einen zarten und zitronenartigen, beruhigenden Einfluss nähmen. Dieses konnte er freilich nur ansatzweise feststellen, und ohne darüber zu lesen, wäre er nicht von selbst darauf verfallen; er kannte sich eben nicht so gut aus. Der Name habe nichts mit der Größe der Pflanze oder ihrer Blüten zu tun – vielleicht dereinst einmal, aber sicher nicht in diesem Fall – und gehe auf den französischen Botaniker Pierre Magnol zurück, fügte der kundige Apotheker hinzu.

Der Duft der Magnolie schien ihm immer mehr nur aus Primzahlen zusammengesetzt zu sein, wenn er nach einem Vergleich suchte, und ihm in gewisser Weise die Reinheit des Gewächses mit den Primzahlen zu korrespondieren schien. Die 5 spielte hierbei eine wichtige Rolle, die 7 auch eine wichtige, aber mehr schließende. Hinzu kamen die 0, 1, 2 und 3. An welcher Stelle sie indes stehen sollten, blieb lange Zeit offen, doch war ihm klar, dass sie das Ein- und Ausatmen symbolisieren sollten. Dann entschloss er sich eines Tages jedoch, und ohne sich viel zu bemühen, zu der Reihenfolge 0-1-2-3-5-3-2-1-7. Der Grund sollte leer bleiben; erst dann kam das allmähliche Ansteigen bis zur 5 und der spiegelbildliche Rückgang bis auf fast seinen Beginn (an dem man ja nicht mehr stand), und schließlich, mit dem größten Sprung, das Begreifen des Ganzen, der Fülle, des Wunders und seiner Schönheit. Die 7 am Ende sollte alles bis dahin Bekannte übertreffen. Und fortan spielte er nicht mehr mit den Zahlen, nachdem er dieses erkannt hatte; das schwierige Problem schien nun gelöst und beschäftigte ihn nicht länger.
 

*


Doch ein neues Problem trat auf den Plan, denn jedes Schicksal des Menschen war aufs Ganze gesehen ein Drama, und der Tod eines Menschen entsprach dem in gewisser Weise zwingend. Alles Weitere war ungewiss und nichts als süße Hoffnung, mit dem sich der Mensch selbst Sand in seine ohnehin halbblinden Augen streute. Daran konnten genannte Erfolge im Menschenleben nichts ändern, sie verkürzten allenfalls die Zeit bis zum endgültigen Ende, gaben Nahrung dem Rätseln, das zwar in dem der Wissenschaften ein kleines Stückchen weiterführen konnte, aber nicht in den grundsätzlichen Fragen, für welche die Wissenschaften nicht da waren.

Warum ließ uns der so barmherzige Gott so sehr im Ungewissen? Die Überraschung, dass nie ein Gott war, ließe sich an der Überraschung messen, dass Gott schon immer da war. Nur denen, die 1 + 1 nicht zusammenzählen konnten, blieb es unklar. Der Reim blieb sich aber gleich: Ob Gott niemals war, oder ob Gott schon immer war. Er schwieg ja zu allem. Dem Menschen, den er „nach seinem Ebenbild“ schuf, gab er nicht sein Wissen um die Zukunft mit, nicht das ewige Leben, nicht die Allmacht, die er selbst hatte. Warum das alles nicht? Kann man da von einem Ebenbild sprechen? Dies sind Dinge, die man nicht übersehen kann, wie man nicht übersehen kann, dass es Reiche und Arme, Schöne und Hässliche, Große und Kleine, Genialität und Tollpatschigkeit auf der Welt gibt. Alles Unerklärliche ist „auf später“, auf die Zeit „nach dem Tod“ verschoben, und in diesem Bereich konnte man versprechen, was man wollte. Über das Eintreten würde ja niemand Rechenschaft ablegen können oder müssen. Oder vielleicht doch?

März 2014 bis Juli 2015
 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Juli 2015
Letzte Änderung:  Mittwoch, 4. Mai 2016

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