Treysa  (Teil 1)

 

Treysa, heute Schwalmstadt

Kindheit in einer kurhessischen Kleinstadt

Autobiographische Studien VI

Teil 1

 

von

Herbert Henck

 

 

 

                    Teil 1

                    Kapitel   1      Vom Himmel hoch
                    Kapitel   2      Am Bahnhof
                    Kapitel   3      Am Bahnhof (Forts.)
                    Kapitel   4      Die Kanonenbahn
                    Kapitel   5      Haus und Garten
                    Kapitel   6      Haus und Garten (Forts.)
                    
                    
                    Teil 2
                    
                    Kapitel   7      Die Familie meiner Mutter – Änne Christel
                    Kapitel   8      Karl Christel
                    Kapitel   9      Karl Christel (Forts.)
                    Kapitel  10     Karl Christel (Ende)
                    Kapitel  11     Das Labor
                    Kapitel  12     Onkel Noll
                    Kapitel  13     Die Generalprobe
 

 

 

 

 

Vorbemerkung

Seit langem schiebe ich dieses Kapitel auf, und ich beginne es, auch wenn das vorausgehende über Fritz und Peter Henck, wohl noch längst nicht abgeschlossen ist und immer wieder ergänzungsbedürftig sein dürfte. Indes drückt das Gewicht, ja die Gewalt der Vergangenheit darin so sehr auf meine Stimmung und mein Befinden, nimmt meine Gedanken und Überlegungen, mein Gemüt und meine Seele so sehr gefangen, dass ich allein aus dem Bedürfnis, mich von dieser düsteren Zeit mit ihren Verbrechen und Lügen zu verabschieden, zu einem neuen Lebensabschnitt überwechsle. Ich hätte dieses neue Kapitel vielleicht besser unter günstigeren Vorzeichen beginnen sollen, doch, wie es der Zufall will, schließt es sich zeitlich und in manch anderer Hinsicht an das Vorangehende an, und die Schatten der Vergangenheit fallen notwendig mit auf die ersten Jahre meines Lebens, ob mir dies nun lieb ist oder nicht.

 

 

Erstes Kapitel
Vom Himmel hoch

Um Treysa vorzustellen, sei in eine Zeit zurückgegangen, die noch vor der Geburt meiner Eltern liegt. Es war ein sehr seltenes wie ganz zufälliges Ereignis, von dem hier berichtet werden soll, ein Vorfall, der nichts mit den kriegerischen Auseinandersetzungen oder der politischen Lage jener Tage zu tun hat, der weder mit der über 700-jährigen Historie von Treysa noch mit den Leistungen, dem Charakter oder dem Geschick seiner Einwohner zusammenhängt und auch meine Familie nicht berührt, der aber gleichwohl geeignet war, dem Schwalmstädtchen, zumindest zeitweilig, den Eingang in das bekannte „Guiness Buch der Rekorde“ zu eröffnen. Ich habe erstaunlicherweise erst vor kurzem von diesem Geschehen erfahren und vermute, dass es weitgehend bereits in Vergessenheit geraten ist. Allenfalls die Lokalzeitungen mögen gelegentlich eines runden Jahrestages in ihren Wochenend-Beilagen darauf zu sprechen kommen.

Dieses Ereignis trug sich am Montag, dem 3. April 1916 um 15.25 Uhr zu und lenkte, wie sich später herausstellte, in einem Umkreis von über einhundert Kilometern die Aufmerksamkeit der kurhessischen Bevölkerung auf sich. Ein eigenartiges Rauschen, Grollen und Donnern war plötzlich in der Luft des frühlingshaft sonnigen Tages zu vernehmen, und als man nach oben sah, woher das ungewöhnliche Geräusch komme, erblickte man einen feurigen Ball vom Himmel herabfahren, der mit großer, erderschütternder Wucht in der Nähe von Treysa in den sogenannten Interessentenwald bei den Dörfern Rommershausen und Dittershausen einschlug. Dann trat wieder ländliche Stille ein, und nur ein fast senkrecht zur Erde weisender Rauchstreifen mit dunkel gezackten Rändern stand noch am Himmel.

Da man sich zu dieser Zeit im zweiten Kriegsjahr befand, regten sich die Leute verständlicherweise auf. Die einen stürzten aus den Häusern auf die Straße, um zu sehen, was geschehen sei; andere suchten Schutz in den Kellern, da sie an einen Fliegerangriff glaubten. Man dachte, ein Flugzeug sei abgestürzt oder ein militärisches Geschoss, etwa eine Kanonenkugel, habe eingeschlagen. Alsbald sprach sich jedoch herum, dass nichts von alledem stimmte und dass nichts von Menschen Geschaffenes, sondern ein Stein aus dem All, ein Meteorit, die Ursache der Erscheinung gewesen war.

Dieser Meteorit, der in Fachkreisen später als „der Meteorit von Treysa“ bekannt wurde, blieb freilich zunächst unauffindbar, da sich solche Flugkörper bei ihrem Aufprall oft so tief ins Erdreich bohren, dass sie sich selten aufspüren lassen. Kein Geringerer als Alfred Wegener untersuchte die Angelegenheit vor Ort. Wegener war zu seiner Zeit einer der Pioniere der deutschen Geophysik und hatte die Erforschung der Erde zu seinem Lebensinhalt gemacht. Bereits in jungen Jahren stellte er mit einem Freiballon einen neuen Weltrekord auf. Er untersuchte das Eis der Polarregion wie die Entstehung der Mondkrater, die Erdatmosphäre, verschiedene Wettererscheinungen und anderes mehr. Höchsten Ruhm erwarb er sich aber durch seine Theorie von der Drift der Kontinente, auch Kontinentalverschiebungslehre genannt, die unter anderem erklären sollte, warum sich deren Umrisse auf einer Weltkarte so auffällig ineinander fügen. Ende November 1930 kam Wegener bei seiner dritten großen Grönlandexpedition ums Leben.

Als er von dem Fall des Meteoriten bei Treysa hörte, arbeitete Wegener an der Universität in Marburg, wo er einige Jahre zuvor Privatdozent für Meteorologie, praktische Astronomie und kosmische Physik geworden war. Da er um den hohen Wert wusste, den jede Entdeckung und Untersuchung eines solchen Himmelskörpers für die Wissenschaft bedeutete, sammelte er sogleich die Berichte von Augenzeugen und schaltete Aufrufe in den Zeitungen, um weitere Aussagen durch Personen zu erhalten, die den Niedergang des Meteoriten beobachtet hatten. Dann wertete er die vielen eingegangenen orts- und zeitgebundenen Daten aus und nahm genaue ballistische Berechnungen vor, in welchem Gebiet man nach dem Meteoriten suchen müsse. Doch wenn auch sein Verfahren später als beispielhaft galt, blieb die Suche zunächst ergebnislos, und eine naturwissenschaftliche Gesellschaft sah schließlich kein anderes Mittel, als eine Belohnung von dreihundert Mark auszuschreiben, die dem Finder des Meteoriten zuteil werden solle. Es blieb nichts anderes übrig, als zu warten und sich in Geduld zu üben.

Im März 1917, elf Monate nach dem Niedergang, fand der Revierförster Huppmann, den ein Holzbauer auf einen vermeintlichen Blitzeinschlag hingewiesen hatte, die Einschlagstelle des Meteoriten, der mehr als eineinhalb Meter tief im Boden steckte. Huppmann grub den dreiundsechzig Kilogramm schweren, aus einer äußerst harten Eisen-Nickel-Verbindung bestehenden Metallstein aus, und die Kunde von seiner Entdeckung drang schnell zu Wegener nach Marburg. Dieser hatte, so erwies sich nun, die Fundstelle bis auf achthundert Meter genau berechnet, und in der Folge veröffentlichte er in wissenschaftlichen Zeitschriften mehrere, zum Teil umfangreiche Beiträge über den Meteoriten von Treysa und die Methode zu seiner Auffindung. Ein solch hoher Grad von Genauigkeit, der sich allein subjektiven Beobachtungen verdankte, war bisher einzigartig bei der Auffindung von Meteoriten und brachte die Leistung letztlich in das eingangs erwähnte Buch der Rekorde.

Förster Huppmann erhielt die Belohnung, und noch heute ist der Meteorit im Museum des Mineralogischen Instituts der Universität in Marburg in einer Vitrine zu sehen. An der Fundstelle wurde inzwischen ein Gedenkstein aufgestellt, der an das Ereignis, welches sich so schnell nicht wiederholen dürfte, erinnert, und ich denke, dass auch die Buche, die der Meteorit einst streifte und die durch ihre Spuren die Einschlagstelle verriet, noch immer vorhanden sein könnte.

 

 

Zweites Kapitel
Am Bahnhof

Bevor ich mich dem Bahnhof meiner Heimatstadt zuwende, will ich kurz noch etwas anderes einflechten. Denn sollte ich eine zweite Naturerscheinung benennen, die sich gleich der ersteren sowohl durch große Seltenheit wie ihre Nähe zu Treysa hervorhebt, geriete ich nicht in Verlegenheit – mag auch der Niedergang und die Auffindung eines Meteoriten schwer zu überbieten sein. Dieses Ereignis, von dem mein Vater wiederholt erzählte, spielte sich ganz im privaten Raum ab, wurde von niemandem sonst als meinen Eltern bemerkt und beobachtet, kam nicht in die Zeitung und wurde weder aktenkundig noch von Wissenschaftlern untersucht. Auch ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen. Der Schauplatz war nicht nur unser Haus in der Burggasse 8, sondern sogar unsere heimische Küche. Anlässlich eines Gewitters trug es sich nämlich zu, dass hier plötzlich ein Kugelblitz erschien und eine Weile lang am Boden umherrollte, ehe er mit einem Knall und ohne irgend Schaden anzurichten unter dem Spülbecken im Rohr der Wasserleitung wieder verschwand. Woher der Blitz gekommen war, wusste niemand, doch kann man nachlesen, dass diese noch immer nicht völlig erforschten elektrischen Phänomene Geistern gleich in der Lage sind, Wände und Fenster problemlos zu durchdringen. Das Ereignis, über dessen Außergewöhnlichkeit ich mir natürlich erst in späteren Jahren klar wurde, müsste noch vor oder kurz nach meiner Geburt stattgefunden haben, vermutlich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. Doch damit genug der Berichte und Nacherzählungen, und ich komme zu Dingen, von denen ich mehr aus eigener Anschauung weiß.

Ein Merkmal Treysas, das weit enger mit der Geschichte meiner Familie verknüpft ist als alle Meteoriten und Kugelblitze, ist sein Bahnhof, da die Gaststätte desselben zunächst von meinem Urgroßvater, den ich nicht mehr kennenlernte, dann in zweiter Generation von meinem Großvater, beide Karl Christel mit Namen, bewirtschaftet wurde. In dem stattlichen Gebäude waren in den oberen Etagen Wohnräume für die Pächter vorgesehen, und so wuchs meine Mutter, 1925 geboren, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in einem Bahnhof auf. Ihr Vater wurde von uns Kindern zur Unterscheidung vom „Opa in Schrecksbach“ (dem Zahnarzt) stets nur „der Opa am Bahnhof“ genannt, zumal beide Großväter mit Vornamen Karl hießen.

Neben den Räumen für die Gäste, nicht nur die auf einer Reise befindlichen, war Herz und Mittelpunkt des Restaurationsbetriebs eine geräumige, im Keller gelegene Küche, aus der die fertigen Gerichte mit einem an Seilen von Hand bewegten Speiseaufzug nach oben zu einem Buffet hinter der Theke befördert wurden; nach unten verschwanden dagegen Zettel mit den Bestellungen sowie das schmutzige Geschirr. Gab es Rückfragen, wo denn der Stramme Max, die Ochsenschwanzsuppe, das Kotelett oder die Russischen Eier blieben, rief man, um sich zu erkundigen, in den Schacht hinab und horchte dann, ob Antwort erfolgte. An die Küche schlossen sich im Souterrain Vorratsräume und ein Kühlraum an, in dem Würste, Speck und Schinken hingen. Da man auch ein oder zwei Schweine hielt, die in einem angebauten Stall mit den Essensresten gefüttert und irgendwann auch geschlachtet wurden, stammte einiges davon wohl aus eigener Herstellung. Zu diesem Zweck gab es auf dem Treppenabsatz zur zweiten Etage einen Räucherschrank aus Metall, den man zum Gebrauch aber vermutlich ins Freie brachte. An einem der Schlachtfeste, wie sich das Oxymoron nannte, erlaubte sich mein Großvater den etwas groben Scherz, mir, ohne dass ich es merkte, das Ringelschwänzchen eines Schweins hinten an meiner Hose zu befestigen, und es dauerte zum Vergnügen der Kundschaft wie all jener, die mich herumlaufen sahen, eine ganze Weile, bis ich merkte, warum ich plötzlich überall so viel Heiterkeit auslöste. Ich nahm es aber nicht krumm, sondern war ganz zufrieden damit, so große Aufmerksamkeit zu erregen.

Neben der Küche führte eine lange Steintreppe in einen noch tiefer gelegenen dunklen Bierkeller, zu dem vom Bürgersteig vor dem Bahnhof aus die Fässer mit einem kleinen, aber kräftigen Lastenaufzug hinuntergekurbelt werden konnten. Große Stangen von Eis, die auf die Fässer gelegt wurden, um das Bier zu kühlen, nahmen denselben Weg. Da man noch keine elektrischen Kühlanlagen besaß, wurden die Eisstangen im Winter aus den zugefrorenen Teichen herausgesägt, die von der Brauerei eigens hierfür angelegt waren und in der übrigen Zeit der Fischzucht dienten. Das Wasser stammte aus der nahen Schwalm und wurde den Teichen durch Gräben und kleine Schleusen zugeführt. Die Eisbarren kamen bis zu ihrer Verwendung in einen tief unter der Brauerei gelegenen Keller, in dem ihnen die Wärme selbst im Hochsommer, wenn man der Kühlung am dringendsten bedurfte, nur wenig anhaben konnte.

Kam es zur Belieferung der Gastwirtschaften, wurden Bierfässer und Eis auf einen Kutschwagen geladen und von zwei kräftigen Pferden an den Ort ihrer Bestimmung gezogen. Eine Spur von Schmelzwasser, das auf die Straße tropfte, zeigte, welchen Weg der Transport genommen hatte. Fabrikationsanlagen, Eiskeller, Pferdestall und Teiche der Brauerei befanden sich in der Ascheröder Straße, weithin sichtbar durch einen hohen Schornstein und nur wenige Minuten von unserer Wohnung in der unteren Burggasse entfernt. Vom höher gelegenen Teil unseres Gartens aus konnten wir die Kutsche des öfteren jenseits der Bahngleise sehen, wenn sie vollbeladen stadteinwärts, am Friedhof vorbei, gemächlich die Straße hinauf zur Mainzer Brücke rollte, um hinter dieser in die Bahnhofstraße oder die Mainzer Gasse in Richtung Marktplatz und Rathaus und dann weiter zum „Hotel zur Burg“ in der Burggasse einzubiegen.

Hatten die Fässer ihr Ziel im Bahnhofskeller erreicht, wurde eines mit der Bierleitung und einer schweren, Kohlendioxid enthaltenden Eisenflasche verbunden, so dass man nun oben an der Theke das Bier aus dem Hahn zapfen konnte, sobald es sich von seiner Reise erholt und der zunächst reichlich strömende Schaum sich in einen goldgelben Strahl frischen, süffigen Biers verwandelt hatte. Das beliebte Bier, das hier ausgeschenkt wurde und das es noch heute unter dem Namen „Schwalm-Bräu“ gibt, stammte aus der Familienbrauerei von Friedrich Haaß. „En gurres Trebbche, kreizschwerneng, des muß vom Treeser Haase seng!“ (Ein gutes Tröpfchen, Kreuzschwerenot, das muss vom Treysaer Haaß sein!) hieß es auf gut Schwälmerisch am Rand der bräunlich bedruckten Bierdeckel, die in lange Rollen verpackt jede Fass-Lieferung als Gratisbeigabe begleiteten. Dabei zeigte ein Bild einmal das Porträt eines Schwälmers in Tracht, ein andermal einen alten Hasen, der im Begriff war, sich ein großes Glas Bier schmecken zu lassen.

 

 

Drittes Kapitel
Am Bahnhof (Forts.)

Entsprechend der Einteilung der Eisenbahnwagen in Klassen unterschiedlicher Ausstattung und Bequemlichkeit war die Gaststätte in Säle erster und dritter Klasse unterteilt. Die zweite Klasse war meiner Erinnerung nach übersprungen, und die dritte Klasse nannte man, vielleicht um dem Gefühl allzu großer Gewöhnlichkeit und womöglich schlechterer, drittklassiger Bedienung vorzubeugen, nur „den Wartesaal“. Diese Bezeichnung war wohl auch insofern angebracht, da es keinen eigenen Aufenthaltsraum für Reisende gab, und man durfte hier wohl auch sitzen und warten oder sich ausruhen, ohne etwas zu bestellen.

Die erste Klasse befand sich in einem kleineren Saal, dessen Fenster hinaus auf den Bahnhofsvorplatz gingen. Hier gab es Teppich und gepolsterte Stühle, und die Tische standen in abgeteilten Nischen an der Wand, an den Fenstern oder in etwas aufgelockerter Ordnung mitten im Raum. Alles sah heller, vornehmer und gehobener aus, mehr wie in einem Café als in einem Restaurant oder einer Schenke. In Zeiten starken Verkehrs war hier stets mehr Ruhe, denn man war vom Betrieb der großen Masse im Wartesaal wie vom Eintreffen und dem Abfahren der Züge mit ihren zischenden Dampflokomotiven, den Lautsprecherdurchsagen, den Pfiffen der Stationsbeamten und dem Zuschlagen der Türen abgeschirmt und konnte durch einen separaten Ausgang auch direkt in die Schalterhalle, an die Sperre mit der Fahrkartenkontrolle oder zur Gepäckausgabe gelangen.

Im großen Wartesaal waren dagegen nur einfache, dunkle Holztische und -stühle übersichtlich gereiht, die Fenster gingen zum Bahnsteig hinaus. An zentraler Stelle stand eine lange Theke mit dem Ausschank in der Mitte und einigen Vitrinen an den Seiten, in denen Süßigkeiten, Zigaretten (Eckstein, Juno, Gold-Dollar) und Zigarren oder belegte Brote, Brötchen und ein großer Teller mit Würstchen auslagen. Letztere waren für den eiligen Gast bestimmt und ließen sich auf einem Elektrokocher schnell erhitzen, um dann mit einem Klecks Senf und einem Brötchen oder einer Kelle Kartoffelsalat in wenigen Minuten serviert werden zu können. Uns Kindern schmeckten sie aber besser kalt und ohne Senf, aus der Hand und so wie sie waren, und man gab sie uns jederzeit, sobald wir Appetit auf sie hatten. Auch bei der normalen Kundschaft hatte man sich auf einen nur kleinen Appetit und schnelle Bedienung eingestellt und wusste, dass die Gäste aus anderen Gründen hierher kamen, als um etwas zu verzehren. Die Hauptsache war allemal, dass sie ihren Zug pünktlich erreichten.

Gleich hinter der Theke stand ein Spültisch, in dem die benutzten Gläser gewaschen und zum Trocknen auf eine durchlöcherte Metallablage gestellt wurden, und an den Wänden im Hintergrund gab es hohe Regale und Buffets, wo sich Kaffee, Tee oder eine Fleischbrühe zubereiten ließen, wo sich Spirituosen, Zuckerdosen und Milchgießer reihten und vielerlei sauberes Geschirr und Bestecke griffbereit lagerten. Noch ein kleinerer, etwas privater Raum mit nur drei oder vier Tischen schloss sich an. Hier fand sich häufig eine Runde von Männern zusammen, die bei der Bahn angestellt waren und nach getaner Arbeit vor dem Heimweg hier noch ihr Bier, sicherlich auch einen Schnaps tranken, redeten, rauchten und dabei im „Schwalmboten“ lasen. Sie waren Stammgäste und wurden bevorzugt behandelt, denn sie waren gute Kunden, die fast täglich vorbeischauten. „Karl, bring ma nochen Bier!“ Etwas polternd, wenn auch nicht unfreundlich, schüchterte mich ihre Art jedoch ein, und ich machte mich lieber im Wartesaal als in dem verräucherten kleinen Raum nützlich, wusch die Gläser ab oder half manchmal auch der Bedienung, indem ich einen Teller oder ein Glas zu seinem Tisch brachte.

Zu den Bahnsteigen hinaus hatte ich keinen Zutritt, denn es gab damals noch Bahnsteigkarten, die am Schalter oder einem Automaten zu lösen waren und dann an der Sperre von einem Kontrolleur wie eine Fahrkarte durch das Knipsen mit einer Zange entwertet wurden. Die zentrale Bahnhofshalle bot an sich wenig Aufregendes, doch wurde irgendwann ein Automat aufgestellt, der mich immer wieder anzog und in dem mancher Groschen der kleinen Trinkgelder verschwand, die man mir gelegentlich zusteckte. Es war ein mechanischer Apparat, mit dem sich ein kleines Namensschildchen aus Blech stanzen ließ, um es dann an seinem Koffer oder wo auch immer zu befestigen. Den Text stellte man zusammen, indem man einen massiven Zeiger auf den jeweils zu prägenden Buchstaben in einem kreisförmig angeordneten Alphabet ausrichtete und dann einen Hebel betätigte. War der Name oder was immer man Kurzes schreiben wollte fertig, wurde das Schildchen abgeschnitten und aus dem Apparat herausgeschoben. Natürlich gab es Pannen, vor allem durch eine fehlende Freistelle zwischen Vor- und Nachnamen, aber nach einiger Übung funktionierte alles wie gewünscht.

Wie das Kinder gerne tun, erkundete ich alle mir zugänglichen Räume des Bahnhofs, vom tiefsten Keller angefangen bis unter das Dach. War eine Türe nicht fest verschlossen, reichte das, die Neugierde zu entfachen, und ich musste sehen, was es hinter ihr gab. Andernfalls musste das Schlüsselloch für Einblicke sorgen. So führte mich in einer stillen Stunde ein Streifzug auch einmal auf den großen Dachboden des Bahnhofs, von dem aus ich durch ein großes rundes Lüftungsloch in schwindelnder Höhe vorsichtig auf den Bahnhofsvorplatz und die Straße unter mir hinabblicken konnte. Innerhalb des Speichers war nochmals ein kleines Zimmer abgeteilt, in dem es tausend interessante Sachen zu sehen gab, die einst zu dem Lokal oder sonst irgendwie zu dem Bahnhof gehört hatten. Koffer und Kartons, eine ausgediente Vitrine, Stapel von Aschenbecher, Fahnenstangen, Wimpel, Schilder, Spiegel und Plakate, einige großformatige Bilder und anderes mehr. Ich kann mich an die Einzelheiten nicht mehr entsinnen. Auch stieß ich auf einen Karton, in dem es Hunderte alter Ansichtskarten gab, wie man sie gewöhnlich an Bahnhöfen in drehbaren Ständern zum Verkauf anbietet. Von diesen Karten besaß meine Mutter ebenfalls eine größere Sammlung, derer sie sich auch in späteren Jahren noch bediente und in der ich manchmal blätterte. Der Vorrat, den sie in einer dunkelroten Keksschachtel aus Blech verwahrte, schien unerschöpflich.

 

 

Viertes Kapitel
Die Kanonenbahn

Dass Treysa überhaupt einen so hübschen Bahnhof in vielfach verschachtelter Jugendstilmanier erhielt, hat eine längere Vorgeschichte, von der hier aber nur das Wichtigste mitgeteilt sei. Ausschlaggebend war auf jeden Fall die geographische Lage des Städtchens, die mehr als alles andere seine Stellung als Knotenpunkt der Eisenbahnlinien begründete. Ursprünglich lag Treysa nur als eine der unbedeutenderen Stationen an jener großen Strecke, die in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als „Main-Weser-Bahn“ von Frankfurt am Main über Gießen nach Kassel gebaut wurde. Für diese Strecke war damals an Treysas nördlichem Rand der „alte Bahnhof“ entstanden, ein vom Ortszentrum abgelegenes Backsteingebäude, das wohl auch heute noch existiert.

Nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 gegen Frankreich wurde von Seiten des preußischen Militärs indes die Forderung laut, dass eine schnelle Bahnverbindung zwischen Berlin und der französischen Grenze geschaffen werden müsse. Die Strecke sollte in möglichst gerader Linie zwischen Berlin und Koblenz verlaufen und die rasche Verschiebung von Truppen oder schwerem Gerät ermöglichen, weshalb neben der Bezeichnung „Berlin-Coblenzer-Eisenbahn“ der populärere und mindestens ebenso zutreffende Name „Kanonenbahn“ aufkam.

Planung und Ausführung der Strecke, welche durch geringe Steigungen und weite Kurvenführungen die Bedingungen einer Hauptlinie erfüllen sollte, verschlangen enorme Mittel, und es bedurfte außergewöhnlicher Anstrengungen, die Ansprüche an die Trassenführung mit den topographisch widrigen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. Denn im Unterschied zu sonstigen Linien verlief die Kanonenbahn nicht parallel, sondern oft quer zu den Flusstälern und Höhenzügen der Mittelgebirge, und so wurden zahlreiche Brücken, Tunnels und Dammaufschüttungen notwendig. Dies hatte zugleich aber zur Folge, dass die Bahnhöfe und andere Haltepunkte häufig weit außerhalb der Städte lagen. Die Strecke wurde nie auf ganzer Länge fertig gestellt; lediglich Teilstücke, die heute fast ausnahmslos stillgelegt oder demontiert sind, wurden in Betrieb genommen, und nur vereinzelt erinnern vermauerte Tunnels mit Fluglöchern für die Fledermäuse, verrostete und von Unkraut überwucherte Geleise oder verwaiste Brücken mitten in der Landschaft an das einst vermeintlich erforderliche und so aufwändige Projekt.

Ein wichtiger Abschnitt der Kanonenbahn war der vollständige Neubau der Strecke von Treysa nach Leinefelde in Thüringen. Als dann zusätzlich nach der Wende zum 20. Jahrhundert eine Bahnverbindung aus Richtung Bad Hersfeld nach Treysa entstand, entschloss man sich, den abseits gelegenen alten Bahnhof aufzugeben und einen neuen zu bauen, durch welchen die sich nun häufenden Schwierigkeiten drei zusammenlaufender Strecken behoben werden konnten. Die Einweihung des neuen Bahnhofs, der sich gut in die Stadt eingliedern ließ, fand 1908 statt.

Die Schwalm wurde durch eine hohe Doppelbrücke aus zwei baulich selbständigen, parallel nebeneinander stehenden Hälften überquert, die mit ihren zweimal fünf hohen roten Sandsteinbogen schon von weitem sichtbar ist und wie ein antikes Viadukt anmutet. Neben Buttermilchturm, Johannisbrünnchen und Hexenturm darf sie als eines der Wahrzeichen Treysas gelten. Die flussaufwärts nach Ziegenhain gewandte Brücke war für die Kanonenbahn bestimmt, die nach Treysa ausgerichtete für die Verbindung zwischen Kassel und Gießen. Die Strecke nach Bad Hersfeld bog, fuhr man vom neuen Bahnhof in Richtung Schwalmbrücke, nach dem Passieren des Friedhofs rechts ab und verlief dann parallel zur Ascheröder Straße, und wir konnten die Abzweigung von unserem Garten, der unmittelbar an den Bahndamm grenzte, gut einsehen.

In meiner Familie wurden noch einige Erinnerungen an den Bau des neuen Bahnhofs überliefert. Demnach gab es im Bereich, in dem seinerzeit die Erdarbeiten anfielen, noch einen alten Friedhof, der verlegt werden musste und für den man eine neue Stelle in der näheren Umgebung fand, an der er heute noch liegt. Da man jedoch eine Vielzahl von Knochen ausgrub, die offenbar keiner Grabstätte mehr zuzuordnen waren, sammelte man sie und brachte sie in ein noch tragfähiges Gewölbe der Totenkirche. Der Zugang wurde mit einem kräftigen hölzernen Tor und einem Vorhängeschloss versehen. Ich habe diese Knochenkammer, von außen wenigstens, noch in recht guter Erinnerung, da wir als Kinder oft auf dem Ruinengelände der Totenkirche spielten und uns, immer vergebens, bemühten, durch eine der Ritzen im Eingang vielleicht einen Totenkopf, ein Gerippe oder anderes Grusliges zu sehen.

 

 

Fünftes Kapitel
Haus und Garten

Das Haus, in dem wir wohnten und das, da ich in ihm entbunden wurde, auch mein Geburtshaus war, stand am unteren Ende der Burggasse, die, kam man vom Marktplatz herab, bei Erreichen der Eisenbahnlinie nach links in den Schwarzen Weg abknickte. Der Schwarze Weg, der heute einen anderen Namen trägt, führte zwischen einer Müllkippe auf der einen und dem allmählich immer höher ansteigenden Bahndamm auf der anderen Seite zur Schwalm hinunter, die man dann parallel zur großen Eisenbahnbrücke auf einem Fußgängersteg überqueren konnte. Ging man den Schwarzen Weg jenseits der Schwalm noch weiter und ließ links auf der Anhöhe die neue Grundschule liegen, gelangte man bald zur Friedrich-Ebert-Straße und war hier schon nicht mehr weit entfernt vom alten Bahnhof, der mir als Kind unheimlich, ausgestorben, verlassen und düster, ja ein wenig verwunschen erschien, da ich seine Aufgabe nicht erkennen konnte.

Am Bahndamm des Schwarzen Wegs entlang führten Telegrafenleitungen, gespannt zwischen den damals üblichen runden Porzellanisolatoren, die wie kleine weiße Vögel in luftiger Höhe gereiht an den Masten saßen. Das Singen des Windes in den Drähten lernte ich hier kennen, wenn ich zunächst auch im Glauben war, diese Klänge hätten etwas mit den Nachrichten zu tun, die, wie man mir erklärt hatte, auf diesem Weg in alle Welt eilten, und man könne in dem Gesang etwas von ihrem Inhalt erlauschen. Hinüber zur Ascheröder Straße konnte man durch eine Fußgängerunterführung gelangen, die wir, warum auch immer, nur „das Tunnell“ nannten, als werde das Wort französisch „tounelle“ mit der Betonung auf der zweiten Silbe und einem stummen „e“ am Ende ausgesprochen.

Am Zaun, der die Bahnanlage zur Burggasse hin abgrenzte und zu dem die Gleise nur wenig Abstand hatten, standen wir Kinder oft im Fahrtwind der mit großem Getöse vorbeidonnernden Güterzüge, die Nähe der Gefahr und die Sicherheit unseres Standorts gleichermaßen genießend. Sie schienen manchmal kein Ende nehmen zu wollen, und wir kamen mit dem Zählen der Wagen bisweilen kaum nach. Waren sie plötzlich vorüber, sahen wir ihnen, fast betäubt, noch lange hinterher, wie sie immer kleiner und leiser wurden und den Blicken hinter der nächsten Kurve oder in der Ferne schließlich ganz entschwanden. Erst dann holte uns die Wirklichkeit wieder ein. Die Schienen waren damals noch nicht verschweißt, und so verursachten die Räder an jeder Nahtstelle einen ständig sich wiederholenden Rhythmus.

Fuhr eine Lokomotive langsamer vorbei, betrachteten wir mit großem Respekt die kolossalen Räder und das wuchtig sich bewegende Eisengestänge, den gewaltigen schwarzen Kessel, den Dampf und den Rauch, und im Feuerschein das Hantieren des Lokomotivführers an seinen vielen Hebeln, Zügen und Griffen und das schwarz verschmierte Gesicht des Heizers, der aus dem Tender die Kohlen heranschaffte und nachschürte. So müsse es in der Hölle aussehen, dachten wir. Das Vorüberfahren der Züge erschütterte den Boden so stark, dass man es noch in unserem Haus spürte und die Fensterscheiben leise klirrten. Aber wir waren daran gewöhnt und nahmen sie irgendwann überhaupt nicht mehr wahr, und auch unseren Schlaf störten sie nicht. Des öfteren gab es jedoch im Gebüsch des Bahndamms kleine Brände, die vom Funkenflug der Lokomotiven rührten und immer schnell gelöscht waren, vor denen wir Kinder aber immer große Angst hatten und die uns bis in unsere Träume verfolgten.

Das Haus in der Burggasse mit unserer Wohnung, das später abgerissen wurde, gehörte dem Vater meiner Mutter, dem wir eine bescheidene Miete zahlten. Es sollte sich einst um ein Fachwerkhaus, ursprünglich gar eine Scheune oder einen Pferdestall gehandelt haben, was nach den Umbauten und Aufstockungen, wann immer sie stattgefunden haben mochten, nicht mehr zu erkennen war, zumal die Außenwände rings mit Schiefertafeln verkleidet waren. Die Balkenkonstruktion im Inneren des Hauses wurde nur einmal erkennbar, als mein Vater, stets Freund überheizter Räume, durch zu ausgiebige Feuerung ein Ofenrohr zum Glühen und damit einen diesem zu nahe verlaufenden Balken im Innern der Wand zum Glimmen gebracht hatte. Da plötzlich Rauch aus den Fugen des Kamins quoll, rief man vorsichtshalber die benachbarte Feuerwehr zu Hilfe. Während wir Kinder im Nebenzimmer von unserer Mutter beruhigt wurden, entfernte man das Ofenrohr, um an den Herd des Schwelbrands zu gelangen. Da sich das Löschen mit den gebräuchlichen Mitteln aber als zu schwierig erwies, holte mein Vater aus seinem Labor eine große Ohrenspritze, mit der er, auf einem Stuhl stehend, einen dünnen Wasserstrahl gezielt auf die glosenden Stellen spritzte. Bald war die Glut erloschen und die Gefahr gebannt. Anderntags bestaunten wir Kinder das Loch in der Wand und den herumliegenden Schmutz, doch kam ein Ofensetzer, isolierte das Rohr und behob den Schaden, und abgesehen von einem leichten Brandgeruch, der noch eine Weile im Zimmer hing, war bald alles wie früher.

Wir wohnten im Parterre. Im ersten Obergeschoss gab es eine Wohnung mit einem großen Balkon, unter dem wir ein in den Garten ragendes helles Zimmer hatten, und schließlich eine Dachwohnung. In der mittleren Etage wohnte die Kunstlehrerin der Oberschule und bildende Künstlerin Hilde Ferber, von der schon die Rede war, ganz oben lebte Herr Kramer mit seiner Frau, ein pensionierter Bahnbeamter. Toiletten waren nur im Hausflur auf jedem Treppenabsatz vorhanden. Wand an Wand mit Hilde Ferbers Wohnung befand sich in zwei Räumen auch das Laboratorium meines Vaters, worauf ein weißes Emailschild, wie Ärzte es noch heute an ihrer Haustür verwenden, neben dem schmiedeeisernen Eingangstor aufmerksam machte.

Mehrfach erzählte mein Vater, wie er zur Zeit der amerikanischen Besatzung die Beschilderung des Hauses geschickt genutzt hatte, um es vor Einquartierung, Durchsuchungen und anderen Belästigungen zu schützen. Denn im Wissen oder in der Annahme um die vielleicht übertriebene, gleichwohl aber vorhandene Furcht amerikanischer Soldaten vor ansteckenden Krankheiten brachte er ein Schild mit der Warnung „Infection“, „Danger“ und „Off limits!“ (Zutritt verboten!), am Eingangstor an, was offenbar ganz die erwünschte Wirkung zur Folge hatte und alle Soldaten einen weiten Bogen um das Haus machen ließ.

 

 

Sechstes Kapitel
Haus und Garten (Forts.)

Unmittelbar um das Haus herum gab es einige Blumenbeete, die meine Mutter versorgte. Hier standen auch mehrere große Flintsteine, mehr zum Schmuck als zum Niedersitzen, an denen man, schlug man mit einem anderen Stein oder einem eisernen Gegenstand gegen sie, hübsche Funken und einen eigentümlich schwefligen Geruch erzeugen konnte. Hinter dem Haus befanden sich ein Ziergarten mit Tannenbäumchen, die später kapitale Höhen erreichten, ein Rosenbeet sowie ein kleines Rasenstück, auf dem zeitweilig ein Hammel weidete, Hansibock gerufen. Mein Vater hatte ihn als Lieferanten frischen Tierbluts angeschafft, dessen er für sein Labor bedurfte. Später, erzählte man, war der Hansibock an einen Metzger verkauft worden. Das Glöckchen, das der Hansibock am Hals trug, zeigte Jahre darauf bei der Weihnachtsfeier an, dass die wartenden Kinder das Zimmer mit dem geschmückten Baum nun betreten dürften und die Bescherung unmittelbar bevorstehe.

Viele Jahrzehnte vergingen, ehe ich durch eine Schrift über Emil von Behring die mir getrennt erscheinenden Dinge, zu denen auch der Hansibock gehörte, in einen sinnvollen Ablauf bringen konnte. Daher sei die Erinnerung einbezogen, dass mein Vater nach dem Kriege über eine damals in Treysa ausgebrochene Diphtherie-Epidemie eine Untersuchung verfasst oder besessen hatte, die er mir einmal zeigte. Nebenbei sei bemerkt, dass es einige wenige Veröffentlichungen meines Vaters gab, vielleicht ein Dutzend kleinere Aufsätze, aber kaum mehr. Auch das Schreiben über Dinge seines Berufs hielt sich bei ihm in engen Grenzen, und seine Dissertation über das Thermothyrin von 1944 scheint die einzige monographische und längere Arbeit meines Vaters gewesen zu sein, sieht man von seinen Gutachten einmal ab. 1990 kam eine zweite Schrift von ihm unter dem Titel „Gelesene, gehörte, erdachte Redereien“ heraus, doch hierbei handelte es sich mehr um ein zufälliges, von meiner Frau herausgegebenes Werk, das eine eher etwas augenzwinkernde Sammlung von Lebensweisheiten und Sprüchen war.

Zwar kann ich mich des nicht sehr langen Textes über die Diphtherie in Treysa nur schwach entsinnen und auch wenig über seinen Inhalt sagen – zumeist enthielt er wohl statistisches Material –, doch könnte meines Vaters Erfindung jener Färbebrücke, die in Kapitel 11, Abs. 8 über das Labor zur Sprache kommt, mit dieser Epidemie in Verbindung gestanden haben, da sich die Diphtherie-Erreger recht gut durch ihre Färbbarkeit unter dem Mikroskop erkennen lassen. Ebenso hörte ich schon sehr früh den Namen von Emil von Behring, der in Marburg gearbeitet hatte, dessen Diphtherie-Forschung vormals unbekannte Wege einschlug und der für seine Serumtherapie, die vieles Leben und besonders das von Kindern rettete, 1901 mit dem ersten Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde. In dem Labor meines Vaters ging es daher in erster Linie vielleicht nicht um neue Erkenntnisse oder Erfindungen, sondern ganz praktisch um die sich aus der Kriegs- und Nachkriegs-Knappheit ergebende Herstellung eines Medikaments, das auf den Überlegungen von Behrings gründete. Und der Hansibock (Tiere sind immun gegen Diphtherie) war vielleicht die wesentliche Voraussetzung, die zur Gewinnung eines Serums gegen die Diphtherie erforderlich war, um dem so oft tödlichen Verlauf dieser Krankheit Einhalt zu gebieten.

Gesellschaftlicher Mittelpunkt dieses Teils des Gartens war jedenfalls ein runder massiver Tisch aus Stein, an dem wir öfters im Kreis der Familie und unserer Besucher saßen. Hier tranken die Erwachsenen bei schönem Wetter am Sonntag-Nachmittag ihren Kaffee, und hier wurde manches Stück Kuchen und Obsttorte aus eigener Herstellung verzehrt. Ansonsten konnte man leicht auf den Tisch klettern und über die Hecke hinweg die Züge beobachten oder jenseits der Gleise zur Ascheröder Straße und zum Friedhofshügel hinüber sehen.

Der Nutzgarten, der auf der Höhe des Steintischs begann und wie das gesamte Grundstück auf dem Treysaer Stadthügel lag, war terrassenförmig angelegt und fiel in mehreren Stufen, die mit einer einfachen Steintreppe verbunden waren, von der Heidengasse in Richtung Bahndamm ab. Der Höhenunterschied, den man besonders um das Haus herum und im Bereich der Beete weitgehend ausgeglichen hatte, war an der Burggasse jedoch noch immer sichtbar, denn hier wurde das Grundstück von einer ziegelroten Backsteinmauer begrenzt, die ebenerdig begann, entsprechend dem Gefälle der Straße aber immer mehr anstieg und am unteren Ende einige Meter Höhe erreichte. Eine Terrasse, deren Überdachung mit Kletterpflanzen bewachsen und verwildert war, schloss das Grundstück an dieser Ecke ab.

Im Garten gab es eine Reihe von Obstbäumen und -sträuchern, und das Hauptbeet hinter dem Haus war durch einen mit Steinplatten belegten Weg in zwei Hälften geteilt, deren vordere meiner Familie zur Verfügung stand. Die hintere wurde von den Kramers bestellt. Hilde Ferber hatte eigene Beete auf einer der höher gelegenen Flächen. Eine Wäschebleiche mit Wasserhahn und ein Gerätehäuschen diente allen Hausbewohnern gemeinsam. Auf der Bleiche standen mehrere Holzpfosten, zwischen denen die Hanfleinen gespannt und die Wäschestücke mit langen, schnabelförmigen Holzklammern festgesteckt wurden. Große weiße Tücher wie Bettlaken wurden zum Trocknen und Bleichen auf dem Rasen ausgebreitet. Gut erinnere ich mich noch an Tage, an denen ich hier als Kind in der Sonne auf dem Rücken im Gras lag, die weißen Wolken an dem blauen Himmel betrachtete und glaubte, die Drehung Erde, von der ich gehört hatte, nun zu beobachten, da die Wolken nur langsam vorüberzogen und ich meinte, sie stünden still, während das Land darunter sich fortbewege. Und einige Jahre später glaubte ich, selbst Atome und Moleküle sehen zu können, da sich mein Sichtfeld aus unendlich kleinen, rasch sich bewegenden und nie ruhenden Punkten zusammensetzte, die überall waren, wohin ich auch blickte. Doch all dieses erwies sich mit der Zeit als Illusion und Irrtum.

An der Abzweigung des Rahmgässchens, auf der anderen Seite der Burggasse, in der damals noch drei oder vier alte Kastanien wuchsen und Bänke standen, gehörte ein kleines Grundstück zusätzlich zu unserem Haus. Hier befand sich in einem kleineren zweistöckigen Gebäude eine Garage und ein Stall mit einem Hof, in dem wir einige Hühner hielten; hier lagerte Brennholz, und mein Vater hatte hier auch einen sogenannten Umformer in Betrieb hatte. Dieser Umformer verwandelte den Gleichstrom, den es nach dem Krieg zunächst ausschließlich gab, mit Hilfe eines Wechselrichters in Wechselstrom und transformierte ihn zugleich für bestimmte elektrische Geräte seines Labors auf die benötigte Spannung. Ich nehme an, dass das Röntgengerät und eine Höhensonne nur auf diese Weise funktionierten.

Man sammelte damals noch alles, was es an Holzabfällen nur irgend gab, um sie später zum Heizen zu verwenden, denn die Zeiten, in denen alle Rohstoffe knapp gewesen waren, lagen noch nicht allzu fern. Als im Krieg Kohle ein besonders kostbares Gut wurde, soll es mitunter aber vorgekommen sein, dass die Heizer vorbeifahrender Lokomotiven eine Schaufel voll Kohlen anstatt in ihre Feuerbüchse „versehentlich“ an den Bahndamm warfen, wenn sie an Haus und Garten von Leuten vorüber kamen, denen sie gefällig sein wollten. Man las die Kohlen natürlich bei nächster Gelegenheit auf und konnte wieder einmal richtig durchheizen.

Holz sammelte man indes bei uns auch lange nach dem Krieg noch, da man es zum Anheizen der Kohleöfen ständig benötigte. Unter einem Schutzdach der Garage war ein beträchtlicher Vorrat aufgeschichtet. Für Bretter, Baumstämme oder anderes von Hand nur mühsam Zerkleinerbare konnte man eine sogenannte Sägemaschine bestellen. Diese war ein höchst abenteuerliches Gefährt auf vier Rädern, das man gelegentlich durch Treysa fahren sah und das auch mehrfach auf unserem Hühnerhof seine Arbeit verrichtete. Ich habe später nie wieder eine solch wunderliche Maschine gesehen, deren genauere Beschreibung meine Fähigkeiten übersteigt. Und so mag es ausreichen zu sagen, dass es sich um eine überdachte Bandsäge mit einem großen vorgebauten Sägetisch handelte, mit der man zugleich zum Ort ihres Einsatzes fahren konnte und die natürlich nur von ihrem Besitzer und vermutlich auch Erbauer bedient und gesteuert werden konnte.

 

Teil 2 (Fortsetzung)

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Freitag,  4. März 2005
Letzte Änderung:  Donnerstag, 3. November  2016

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