Die Tulpe

 

Die Tulpe

 

 

von
 

Herbert Henck

 

 

Die Soldaten in der Kaserne hatten sich zur Nachtruhe begeben und waren eben am Einschlafen, als plötzlich die Tür ihrer Stube aufgerissen wurde. Die bereits gelöschte Deckenbeleuchtung wurde wieder eingeschaltet, und ein Vorgesetzter erschien in Begleitung mehrerer Wachen mit dem unüberhörbaren Befehl: „Appell!“

Man wusste, was dies zu bedeuten habe, stand geblendet und schläfrig von seinem Lager auf, hütete sich aber, es an den üblichen Zeichen militärischen Respekts fehlen zu lassen. Der Vorgesetzte, ein „scharfer Hund“, wie man sagte, war allen bekannt wegen seiner Strenge und seines hohen Sauberkeitsanspruchs, dessen Grundlage ein unerbittliches Pochen auf die Dienstvorschriften war. Der Appell erschöpfte sich gewöhnlich in der Auffindung eines lachhaften Stäubchens, führte dann zu einer langatmigen Ermahnung und endete stets mit der gnadenlosen Bestrafung derer, denen es, so der Tadel, nicht möglich gewesen war, dem Gebot peinlichster Reinheit nachzukommen. Aber es war nichts zu machen, ein Appell stand an.

Die Prüfung oder Kontrolle nahm der Vorgesetzte persönlich vor, damit kein Auge zugedrückt werden könne. Er inspizierte die gescheuerten Waschbecken, ob sich auch ja das Licht in ihnen spiegele, und streifte mit einem Finger auf der Oberseite der Spinde entlang, um sich zu vergewissern, dass sich hier nicht unbemerkt Staub abgesetzt habe, ging in die Knie, bückte und reckte sich oder stellte sich zuweilen auf einen Stuhl, um überall nach dem Rechten zu sehen. Auch die Fußböden und Gardinen, Zahnputzbecher, Zimmerwinkel und andere Ecken, an denen sich Schmutz hätte ansammeln können, wurden examiniert. Er kannte alle Stellen und übersprang keine.

Doch diesmal war nirgendwo etwas zu finden, das eine Maßregelung gerechtfertigt hätte. Nirgends war Anlass zu einer Beanstandung gegeben, alles blitzte und blinkte, wie es hätte sein sollen. Anstatt zufrieden zu sein mit sich und dem Erfolg seiner früheren Bemühungen, blickte der Vorgesetzte missmutig auf die Soldaten, denn mit allzu großer Sauberkeit hatte er nicht gerechnet. Sichtlich war sie ihm nur Mittel zum Zweck, und man nahm ihm hier einen Teil seiner Macht, die sich allemal besser in einer Bestrafung als in jedem Lob zeigte, denn nur so verbreitete sich sein Ruf unverzüglich.

Erneut sah er sich in der Stube um, und da sich sein Blick nun schärfte, wurde er fündig. Er entdeckte nämlich auf einem Tisch eine Vase mit einer rotblühenden Tulpe aus Plastik, die vor Jahren ein Soldat bei einem Schützenfest gewonnen, mitgebracht und später vergessen hatte. Der Vorgesetzte ging zu dieser künstlichen Blume, nahm sie aus ihrer wasserlosen Vase und begann sie zu untersuchen. Dabei steckte er einen Finger in die Blüte, fuhr im Kreis herum und zog ihn wieder heraus. Auf dem Finger lag eine dicke Schicht von Staub.

„Und was ist das?“, fragte er langsam und so leise, dass man genau hinhören musste, um ihn überhaupt zu verstehen; denn jedes laute Wort, das er sich für den Fall unwiderlegbarer Beweise für offenbare Verstöße aufgespart hatte, musste so noch lauter und einschüchternder wirken. Das Ende seiner Frage betonte er jedoch bereits mit sich erhebender Stimme, und die eigentliche Kriegserklärung lag in dieser Steigerung. Fragend und drohend sah er die Soldaten in ihren Schlafanzügen an.

Schweigend, schuldbewusst und müde betrachteten die Soldaten den staubigen Finger, im voraus gelangweilt von der zu erwartenden Predigt und der unvermeidlich harten Strafe für ihre Nachlässigkeit.

Doch da trat einer von ihnen aus seiner Reihe und gab Antwort auf die Frage, welche noch immer im Raume stand und durch ihren Tonfall weniger eine Frage als ein Vorwurf gewesen war. Und als handele es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt, sagte er: „Melde gehorsamst: Blütenstaub, Herr Leutnant!“

Der Vorgesetzte zog die Brauen zusammen, und sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr, doch fand er keine Erwiderung.

„In Ordnung!“, sagte er schließlich in gleichgültigem Ton, die plötzlich eingetretene Stille und die mühsam beherrschten Mienen, die ihn umgaben, nicht zur Kenntnis nehmend. Und nach einer Pause wandte er sich an die wartenden Soldaten und befahl: „Weiterschlafen!“ So schnell, wie er gekommen war, waren er und seine Begleiter wieder verschwunden.

 

Januar bis Mai 2013

 

 

Vor vielen Jahren erzählte mein Vater vorstehende Geschichte aus seiner Militärzeit, die heute über siebzig Jahre zurückliegt

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Dezember 2014
Letzte Änderung: Dienstag, 3. Mai 2016

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