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Maltag
von
Herbert Henck
Die Nacht war unruhig, ja dramatisch verlaufen. Turnusmäßig schlief ich neben Jana, als mich gegen drei Uhr in der Frühe ihr Weinen
weckte. Auf meine verschlafene Frage, was denn sei, antwortete sie, dass sie jetzt den Weihnachtsbaum nicht mehr abschmücken könne. Ich verstand nicht, worum es ging, war viel zu müde, um nicht
verstimmt zu sein, und schaltete das Licht schließlich ein. Ich bestand auf meinem Schlaf und der Vertagung der Diskussion über den Weihnachtsbaum, wurde, als alle Beschwichtigungen nicht halfen, ärgerlich, begann
zu schimpfen und drohte mit dem Verlassen meines Schlafplatzes.
Jutta, von unserem Lärm nun ebenfalls geweckt, kam herbei, um zu sehen, was es gebe. Nach knappem Bericht über das Vorgefallene erfuhr ich, dass Jana am Vortag eindeutig, dazu
noch in geringschätzigem Ton, abgelehnt hatte, beim Abschmücken des Weihnachtsbaums behilflich zu sein, und lieber draußen, im Freien hatte spielen wollen. Jetzige Klagen über ihre Nichtbeteiligung und ihren
vermeintlichen Ausschluss waren unbegründet, und die Beschwerden wurden zur Unzeit vorgetragen.
Aber was tun? Vorhaltungen nutzten nichts, das Geschehene war nicht rückgängig zu machen, und Jana musste einsehen, dass sie selbst ihre Chance vertan hatte.
Jutta und ich tauschten die Betten – vielleicht fand Jana neben der Mutter schneller zur Ruhe zurück als neben dem gereizten Vater, der nach kurzem Hin und Her in den
ersten Stock stieg, um dort sich niederzulegen. Die Wecker waren auf kurz vor sieben Uhr gestellt, die Zeit war kostbar, die Ruhe wichtig. Nach längerem Wachen fiel ich zurück in den Schlaf, wurde nun allerdings,
wie oft in diesen Tagen, von bösen Träumen heimgesucht.
Auch Jana und Jutta fanden alsbald zum Schlaf zurück, und nach pünktlichem Wecken folgte am nächsten Morgen in der Küche das gemeinsame Frühstück mit Kaffee, Apfelsaft, Kakao und
Brot. Jana schätzte Schmalz, Tee- oder Kalbsleberwurst, Jutta diverse Wurst- oder Käsebeläge, während ich zwischen verschiedenen Marmeladen und Pflaumenmus wechselte oder ebenfalls von dem vegetarischen Schmalz aß,
das Zwiebelschmelz hieß und dessen Rechtschaffenheit nicht allein durch seine Herkunft aus einem Naturkostladen, sondern zusätzlich durch ein Zitat aus den Sprüchen Salomonis auf dem Etikett verbürgt war.
Der nächtliche Vorfall kam nicht mehr zur Sprache.
Wie stets schlossen sich dem Frühstück das Zähneputzen und Waschen an, zu denen ich Jana ins Badezimmer begleitete. Dann half Jutta beim Anziehen. Wir küssten uns zum Abschied, und
auf mein „Viel Spaß im Kindergarten!“ antwortete Jana zumeist mit „Viel Spaß beim Klavierüben und Briefeschreiben!“ Und während Jana nun den Vormittag über im Kindergarten war, übte ich Klavier und
hörte in den Mittagsstunden Tonbänder ab.
*
Am frühen Nachmittag, kurz bevor die Stunden anbrachen, die Jana und ich gewöhnlich gemeinsam verbrachten und in denen Jutta, wie ich zuvor, anderen Aufgaben nachgehen konnte, wollte sie
malen. Es gab keinen Grund, ihr den Wunsch abzuschlagen: Wir hatten Zeit und Ruhe, das erforderliche Material stand zur Verfügung, die Vorbereitungen und späteren Aufräumarbeiten waren überschaubar.
Ich half Jana in ihren Malerkittel, ein abgelegtes kurzärmeliges, hellblau-weiß gestreiftes Sommerhemd von mir, das sie wie ein Mäntelchen einhüllte und bis zu ihren Füßen reichte.
Um Zeit zu sparen, knöpfte ich ihn zu. Janas Haar band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen, damit es beim Malen nicht in die nasse Farbe falle. Jana malte am Boden kniend im Hauptgang ihres Zimmers zwischen Bett und
Puppenhaus, wo am meisten Platz für die Ausbreitung ihrer Utensilien und zum Trocknen der fertigen Bilder zur Verfügung stand.
Es gab nur vier Farben, sogenannte Fingerfarben, in Janas Aufstellung von links nach rechts: Blau, Rot, Grün und Gelb. Sie waren bereits zu einer dicken Paste angerührt, ließen sich gut
mit Wasser verdünnen und wurden in Plastikbechern mit Schraubdeckeln vor dem Austrocknen bewahrt. Den Kindern, denen sie in erster Linie zugedacht waren, schadeten sie in keiner erkennbaren Weise und hätten sich
vielleicht sogar gefahrlos verzehren lassen.
Aus künstlerischer Sicht besaßen sie gleich anderen Wasserfarben den Nachteil, dass sie nur in feuchtem Zustand Feuer besaßen; und wie die Farben von Steinen oder Muscheln, die
man ihrer schönen Zeichnung wegen einem Gewässer entnimmt, nach dem Trocknen ihr Aussehen oft so stark wandeln, dass man später kaum mehr weiß, warum man sich überhaupt mit ihnen beschwert habe, verloren diese
Fingerfarben mit dem Verdunsten der Flüssigkeit nach wenigen Minuten ihr Licht, wurden kreidig fahl und pastellig matt.
So war den jungen Künstlern, die im Augenblick des Schaffens an nichts weniger dachten als an die Haltbarkeit der verwendeten Farben, ihre Arbeit in kürzester Zeit entfremdet, lange noch
bevor andere Betrachter ihre Ursprünglichkeit erblicken und ihrer Frische sich hätten erfreuen können. Wollte man ermessen, was hinter den Bildern, die solchermaßen gemalt waren, an farblichem Verständnis,
an Vorstellungsgabe und Experimentierlust sich verbarg, wäre dieser Umstand stets zu berücksichtigen.
Als Malpapier dienten Zeichenblöcke im A4-Format, von denen ich, um Jana nicht unnötig durch schwierige Abreißprozeduren zu unterbrechen, einzelne Blätter im voraus abtrennte und ihr
nach Bedarf reichte.
Zum Schutz des Teppichbodens breiteten wir eine alte Plastiktischdecke aus, auf der neben den Papierbogen und den Farben nun auch das Wasserglas zum Auswaschen der Pinsel, ein
Suppenteller als Untersatz des Glases und später auch eine kleine Sammlung von Pinseln zu stehen kamen. Das Wasser zum Auswaschen der Pinsel wechselte ich in der angrenzenden Küche, sobald es dunkel wurde
und die Farben zu stark verschmutzte. Jana maß diesem Umstand zwar keine besondere Bedeutung zu, doch verstand und billigte sie mein Eingreifen.
Um die schon früher benutzten und etwas angetrockneten Farben zu verflüssigen, füllte Jana anfangs in jedes der Töpfchen noch etwas Wasser. Hierfür brachte ich ihr die Pipette eines
leeren Medizinfläschchens, mit der sich die erforderlichen Mengen leichter abmessen ließen.
All diese Vorbereitungen verliefen wie bei früheren Gelegenheiten, und nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag von anderen sich unterscheiden und etwas zuvor nicht Dagewesenes
bereithalten werde. Dass Janas Malen einen wesentlich anderen Verlauf, eine neue Richtung des Ausdrucks oder ein noch unbekanntes Ausmaß nehmen werde, war zwar stets abstrakt als Möglichkeit gegeben;
der Zeitpunkt des Eintretens solcher Veränderungen war jedoch in keiner Weise vorherzusehen.
Da ich vorerst noch in der Küche beschäftigt war, Jana aber nicht länger warten, sondern malen wollte, begann sie ohne mich. Die Tür zu ihrem Zimmer, das geringfügig höher als die Küche
liegt, stand jedoch, wie tagsüber zumeist, weit offen und war mit einem kleinen Keil gesichert, und so konnte ich beim Hin- und Hergehen sehen, was sich dort tat.
Als ich Janas Zimmer schließlich betrat, war das erste Bild bereits fertig. Es zeigte drei Abdrücke ihres linken Händchens, das sie zuvor, dicht vor die Augen haltend, mit Farbe
eingepinselt hatte. Jede Vertiefung, jede Falte und Rille war sorgfältig bestrichen worden.
Auf dem Bild stand eine rote Handfläche links, eine etwas geneigte gelbe rechts oben und eine dritte, fast schon liegende grüne rechts unten. Nach jedem Abdruck hatte Jana das Papier
entgegen dem Uhrzeigersinn gedreht und so die spezifische Verteilung und Stellung der Abdrücke bewirkt. Zugleich hatte sie den Druck, mit dem sie die Hand aufsetzte, jedes Mal etwas verringert, wodurch die letzte,
grüne Hand in eine Vielzahl kleiner Flecken aufgelöst war. In der Mitte des Blattes gab es eine diffuse rote Fläche, die streifenförmig in dem roten Handabdruck ansetzte. Wahrscheinlich war sie erst nachträglich mit
einer Papierkugel aufgetragen; doch hiervon später. Besah man die Abdrücke der Hand genau, konnte man in dem gelben Abdruck rote und in dem grünen sowohl rote wie gelbe Spuren erkennen, so dass sich aus der
Anzahl der Farben die Folge ihrer Verwendung ablesen ließ. Blau fehlte ganz.
Hatte Jana das Abdrucken ihrer eingefärbten Handflächen (und Fußsohlen) schon früher praktiziert, erschien mir die Drehung des Papiers als neu hinzugekommene Erweiterung ihrer
Technik. Die ursprünglich strenge Dokumentation der Körperformen wurde zum Spiel, bei dem die Fläche des Papiers einging in die nunmehr freiere Gestaltung. Durch Zufall war der Abdruck der gelben Hand zum Teil schon
auf das darunter liegende Blatt geraten, wo er, schnittartig nach unten begrenzt, die Spitzen des linken Mittel-, Ring- und kleinen Fingers zeigte. Diese waagrecht fragmentierte Gestalt ergänzte Jana in der Folge
durch eine blaue Form, die in mehrmaligem Auf und Nieder eine gegensätzliche, vielfach filigran durchbrochene Figur auf die Beine stellte. Zu ihrer Ausführung benutzte Jana Küchenkrepp, das ich ursprünglich zur
Säuberung der Hände geholt hatte. Sie knäuelte das Blatt jedoch zu einer Kugel zusammen, tunkte sie in den blauen Farbtopf und führte das der Reinigung zugedachte Mittel neuen künstlerischen Ufern zu.
Sämtliche Bilder, die Jana an diesem Tag malte, besaßen Querformat, das durch seinen breiteren Grund, sein Liegen mehr Ausgleich, Ruhe zum Gestalten und Betrachten schafft. (Das
Hochformat hat dagegen Aktives, Hinstellendes, Errichtendes und den Willen Betonendes.)
Leider versäumte ich, die Bilder rechtzeitig zu nummerieren, um einmal ihren Werdegang verfolgen zu können, zu sehen, wo es Entwicklungen, Ähnlichkeiten, Wiederholungen oder Sprünge gab
in der Wahl der Farben, der Art, sie aufzutragen, der Themen und Motive, die einmal gegenständlich, ein andermal abstrakt waren, einmal leicht Erkennbares zeigten, ein andermal der Phantasie freien Lauf ließen. Doch
gab es Gründe für mein Versäumnis.
Da alle nachträglichen Beschriftungen von elterlicher Hand, zu denen auch der Namen der Urheberin, Zeitpunkt des Entstehens und Ausrichtung des Bildes gehörten, nur auf den
Rückseiten der Blätter angingen, wo sie keinen Einfluss auf das eigentliche Bild nahmen, stellte vor allem die nasse, manchmal selbst bei vorsichtigster Bewegung des Blattes verlaufende Farbe ein Hindernis dar, dies
augenblicklich zu tun. Um dennoch die Übersicht nicht zu verlieren, ordnete ich anfangs die Bilder so auf dem Boden an, dass räumliche und zeitliche Abfolge einander entsprachen.
Doch die Zahl der Bilder wuchs, und unmerklich rückten sie näher und näher an die Malerin heran, bis diese schließlich von ihnen so beengt war, dass wir bereits abgetrocknete Bilder
entfernen und auf Kommode oder Bett oder wohin auch immer verlagern mussten, um wieder Bewegungsfreiheit zu haben. Da hierbei auch immer mehr Spielsachen oder Kleidungsstücke umzuverteilen waren und sie am besten
selbst entschied, wo etwas abzulegen sei, half Jana mit. Diese Prozedur erschwerte die spätere Zählung der Bilder jedenfalls zusätzlich.
Ich hatte mich unterdessen auf einer Matratze ausgestreckt, von der aus ich Janas Tun aus nächster Nähe verfolgen konnte. Dieses Lager verließ ich nur zum Ablegen der Bilder,
die mir Jana reichte, zum Wechseln des Pinselwassers oder zu sonstigen kleinen Diensten.
Als die ersten beiden Bilder mit den Handabdrücken fertig waren, verlangte Jana nach ihren Pinseln, die gewöhnlich in der Küche in einem Glas über der Heizung zum Trocknen standen. Ich
holte sie. Jana wählte zunächst einen dickeren Borstenpinsel. Als sie die ersten kräftigen Striche damit ausführte, löste sich der Holzstiel aus seiner Blechfassung; die Reparatur war einfach. Nach der
anfänglichen Phase innigen Berührens von Farbe und Papier und dem unkonventionellen Einsatz des Papierknäuels waren nun Pinsel die alleinigen Hilfsmittel zur Ausführung alles Folgenden, und in jeden Farbtopf kam ein
eigener.
Eines der ersten Pinselbilder bestand aus einem großen Tupfenmuster, das tapetenartig die gesamte Fläche bedeckte. Alle verfügbaren Farben wurden eingesetzt, blieben untereinander aber
unvermischt. An den sich abzeichnenden Borsten war ebenso die Struktur des Pinsels kenntlich wie die Kraft und der Drang, die ihn lenkten. Jeder Tupfen war überlegt, wurde ernst und bedächtig ausgeführt und war
nichts weniger als ein zielloses Herumfuhrwerken auf dem Papier, wie es später gelegentlich vorkam.
Dass Jana immer mit der rechten Hand malte und waagrechte Striche wie beim Schreiben von links nach rechts auszog, erleichterte später bei einigen ungegenständlichen Bildern die
Entscheidung, wo oben und unten sei, denn auch diese Orientierung war durch den mehrfachen Ortswechsel mitunter verlorengegangen. Es half jedoch der Umstand, dass fast alle horizontalen Linien links in voller
Farbe mit offensichtlich wohlgetränktem Pinsel einsetzten und sich verliefen, je weiter nach rechts sie reichten, und dass eine gesättigte immer mehr einer schütteren, vom weißen Grund des Papiers durchsetzten
Struktur wich, an deren Ende oftmals einzelne Pinselborsten sichtbar wurden.
Eine zweite Hilfe war die Krümmung der Striche. Hier waren bogenförmige Bewegungen des Pinsels, die, gemäß der Drehung des Armes aus der Schulter heraus, links etwas tiefer begannen, sich
oben rundeten und dann wieder senkten, weit eher die Regel als gefäßartig nach oben geöffnete Linienführungen.
Jana selbst war sich, auch wenn sie in der Zwischenzeit anderes gemalt hatte, der Ausrichtung ihrer Bilder im Allgemeinen sicher und duldete keinerlei Drehung oder Verkehrung. Sie
wusste zumeist, wie das Bild bei seiner Entstehung vor ihr gelegen hatte, und so sollte es immer liegen, wenn man es ansah.
Eines der nächsten Bilder war das, was man als vollwertiges Gemälde bezeichnen könnte. Jana bemalte fast das ganze Blatt bis an die Ränder, wobei sie alle vier Grundfarben einsetzte.
Inhaltlich schwankten die großen, mit breiten Strichen gemalten Flächen zwischen Konkretem und Abstraktem. Ohne weiteres konnte ich etwa ein grünes Segelboot mit rotgesäumten Segeln auf einem blauen See, rings
umgeben von Sonnenstrahlen, darin erkennen; doch ließ sich alles auch als freies Spiel von Formen, Kreisen und Flächen deuten. Ich vermied, Jana auf das anzusprechen, was sie gerade malte oder gemalt hatte, da ich
keine Diskussionen in Gang zu setzen wünschte, die ihre Konzentration auf andere Gegenstände verlagern und das eigentliche Malen hätten beeinträchtigen können. Aus demselben Grund ging ich auf das, was sie selbst zu
dem ein oder anderen bemerkte, immer nur kurz und grundsätzlich zustimmend ein.
Dann lockerte sich das feste Gefüge der eben noch nahtlos aneinanderstoßenden Flächen. Fünf kräftige, über das gesamte Blatt gezogene Bänder teilten den nächsten Bogen Papier auf: unten
blau, dann rot, in der Mitte gelb, dann wieder blau und zuoberst rot. In drei der weiß gebliebenen Streifen zwischen diesen Bändern setzte Jana grüne Tupfen, die wie Pflänzchen in den Reihen eines Beetes wuchsen:
oben neun, in der Mitte elf, unten zwölf.
Noch weiter aufgelöst gerieten die folgenden Bilder, wobei sich aus den schon genannten Gründen die genaue Abfolge nicht mehr feststellen ließ. Zunächst entstand ein völlig offenes
Gefüge einzelner Pinselstriche, das mit allen Farben in alle Richtungen wies. Hatten die gelben, roten und grünen Striche noch einigermaßen geschmeidige, diagonal verlaufende Form, so stellten die knappen
blauen Akzente einen Gegensatz dar, der als zweite Schicht alle anderen Farben überlagerte.
In zwei weiteren Bildern entluden sich die gestauten Energien. Immer wilder und eigenwilliger fuhren die Linien über die Flächen, verschlangen sich zu immer neuen Kreisen und Schleifen,
die Farben kreuzten sich zu ungezählten Zwischentönen; alles schien in Fluss und Aufruhr geraten, nichts anderes mehr bildete sich ab als das Toben des Pinsels.
Doch brach diese Ekstase unvermutet ab, und als habe sie sich besonnen, dass dieser Weg nun bis zum Ende beschritten sei, malte Jana auf das nächste Blatt die Grundfarben wieder
sauber voneinander abgesetzt als elementaren vierstimmigen Akkord und unvermischten Farbkreis, gleichsam Abbild jener vier Farbtöpfchen, aus denen sie schöpfte.
Wie manchmal zuvor, da sie mehrere Bilder in Folge malte, war es Jana wichtig, unverzüglich die Wirkung derselben auf den jeweils anwesenden Elternteil, womöglich beide, zu überprüfen.
Kaum war ein Bild fertig und beiseite gelegt, erkundigte sie sich daher, welches man für das erstbeste, das zweitbeste, drittbeste und so fort halte. Hatte man ihr die eigene Rangordnung mitgeteilt, vergaß sie nie,
die ihre anzufügen.
Dieses sich mit jedem hinzukommenden Bild ausdehnende und schwieriger gestaltende Ritual verlor für sie keinen Reiz, im Gegensatz zu den immer wieder neu zur Stellungnahme
Herausgeforderten, die zu diesem Zwecke auch eigens herbeigerufen wurden. Jana schien hier gleichermaßen die Möglichkeiten zu suchen und zu genießen, ihre Meinung bestätigt zu finden wie ihre Arbeiten mit fremden
Augen betrachten zu können. Unterschiedliche Einschätzungen kümmerten sie wenig, und sie schloss sich der Meinung der Erwachsenen keineswegs an. Sie blieb dem einmal gefällten Urteil treu, und Änderungen in der
Platzierung kamen erst zustande, wenn ein neues Bild ihr so gelungen schien, dass es den vormaligen Favoriten ausstach.
Der Vorgang wechselseitiger Bewertung und die Reihung der Bilder nach dem Kriterium persönlichen Gefallens irritierte die nachträgliche Chronologie vollends, so dass wir, entgegen unserer
sonstigen Gewohnheit, schließlich ganz auf ihre schriftliche Fixierung verzichteten.
Erst ein Jahr später – die Originale Janas lagen längst in einer bunten Mappe verwahrt – beschäftigte ich mich im Rahmen der vorliegenden Aufzeichnungen erneut mit
ihrer Abfolge und nummerierte sie zunächst so, wie ich sie in der Mappe vorfand. Dann untersuchte ich die Originale selbst und ergänzte meine zum Teil schon recht vagen Erinnerungen mit Hilfe einiger von Jutta
aufgenommener Photos, die die Malerin nach getaner Arbeit inmitten ihrer Werke zeigten. Trotz dieser Hilfsmittel gab es freilich Unsicherheiten und Lücken in der Zählung, die sich nicht mehr überbrücken ließen.
Janas Malen hatte nichts Ebenmäßiges, ruhig Dahinfließendes, sondern war im Gegenteil durch ständigen Wechsel der Intensität und der ihr zur Gebote stehenden Ausdrucksmittel
gekennzeichnet. Innerhalb kleinerer Gruppen sichtlich zusammengehöriger Bilder gab es Steigerungen oder selbst Ausbrüche, in denen die Farben einzig noch die Energie festhielten, die sie verteilte, und keinerlei
Rücksicht mehr genommen wurde, ob das Entstehende sich einem Betrachter verständlich mache. Es war ein lustvoll mutwilliges Hinausschießen über das Ziel, ein Nichtaufhörenwollen und -können, ein Weiterwollen und
-müssen in Wellen der Begeisterung. Immer wieder ein neues Blatt. Das Ende des Blocks ist kein natürliches Ende, ein neuer muss her: die Kraft ist noch nicht erschöpft, neues Papier, neuer Spaß, neue Lust,
neues Leben. Sie zeigt es uns, was Malen heißt.
Niemand schreibt vor, wie es zu gehen hat, niemand mischt sich ein, mahnt und meckert, verweist auf die Uhr, wird ungehalten, alles scheint sich von selbst in die richtigen
Bahnen zu fügen. Zwar wird nicht alles in gleicher Weise gelobt, doch hat alles im Gang der Arbeit seinen Wert und wird unbefragt angenommen. Nichts ist völlig verdorben, nichts gänzlich misslungen und
unbrauchbar: es hängt davon ab, wie man es sieht, welchen Sinn man dem Ganzen zu geben und in welchen Zusammenhang man auch vermeintlich Missratenes zu stellen weiß.
Doch die Exzesse verebbten wieder und mündeten einmal in symbolisch anmutende Grundformen wie Punkte, Kreise und Streifen, Sterne und Kreuze, ein andermal in Gegenständliches. Letzteres
war zwar die Ausnahme, doch die Gemälde eines Regenbogens, einer grünen Brille oder die eines Menschen – wen immer es zeigen mochte – belegen das Bedürfnis, Gesehenes wiederzugeben. Darüber hinaus mögen
aber auch viele jener Darstellungen, die ich dem Abstrakten zuordnete, Elemente enthalten haben, die ich nur nicht als gegenständliche erkannte, die für Jana aber festumrissene und konkrete Bedeutungen hatten.
Die Übergänge zwischen beiden Formen waren fließend, und keinesfalls möchte ich im Einzelnen auf der Richtigkeit meiner Deutungen bestehen.
Jutta kommt von alleine. Gerade hatten wir sie holen wollen, damit sie „Bauklötze staunt“ über all die vielen Bilder, mit denen das ganze Zimmer ausgelegt ist. Sie staunt
Bauklötze und macht dann Fotos. Jana macht „den Elefanten“, das heißt, sie reitet auf meinem Rücken über das Bett und durch das Zimmer, heute stark im Radius eingeengt.
Jana malte an diesem Nachmittag, in der Zeit zwischen drei und fünf Uhr, siebenundzwanzig Bilder, eine zuvor nie erreichte Zahl. Mindestens auf dem Papier, einer in sich geschlossenen und
somit unantastbaren, zu respektierenden Welt, lebte Jana mit diesen frühen Kunstwerken etwas vor, das ich in diesem Ausmaß und mit solch großem Formen- und Farbenreichtum nicht erwartet hatte. Und wenn ich hier von
Kunstwerken spreche, so geschieht dies nicht im übertragenen Sinn oder mit unsichtbar schmälernden Anführungszeichen, sondern im Bewusstsein, dass hier ein Mensch, dessen Alter und Glaubwürdigkeit nicht zur
Diskussion stehen können, sich auf die ihm eigene Weise, uneitel und ohne Hintergedanken auszudrücken verstand, ohne Rücksicht auf Moden und Geschmack oder das Urteil der Älteren und Erfahreneren, unbekümmert um
Traditionen und Technik, nur seine augenblicklichen Vorstellungen, Kräfte und Empfindungen wiedergebend, einzig auf die Stimme der Eingebung horchend.
Das bedeutet nicht wenig in einer Gesellschaft, in der die Orientierung am Vergangenen tonangebend ist und in der allem Neuen, Selbständigen, naturhaft Erfühlten mit Argwohn,
Angst und Strafe begegnet wird. Und in die Freude und Genugtuung des Vaters, der seine Tochter zu unerwarteter Reife und Empfindsamkeit aufblühen sieht, mischt allein sich Bewunderung für eine ach so
junge, heftige, beseelte und furchtlos leidenschaftliche Schöpfer- und Schaffenskraft.
*
Es gibt Tage, über die man nicht ohne Pfand hinweggehen mag, Tage, die aus innerer Notwendigkeit heraus eines Andenkens, einer sichtbaren, greifbaren Erinnerung bedürfen, um dem
Flüchtigen bleibende Form zu verleihen und sicherzustellen, dass sie Wirklichkeit waren. Auch später, wenn vielleicht auch erst nach Jahren, möchte man sich vergewissern können, das einst Geschehene und Gesehene
habe sich inzwischen nicht unseren Wünschen angeglichen, und unser fortgeschrittenes Erleben und Vergessen habe die Vergangenheit nicht allzu eigenmächtig verwandelt. Ein solcher Tag war der beschriebene Maltag,
Mittwoch, der 14. Januar 1998, an dem Jana vier Jahre, acht Monate und zwei Tage alt war.
Deinstedt, 1998/99
Erste Eingabe ins Internet: Montag, 9. Mai 2005
Letzte Änderung: Donnerstag, 23. April 2015
© 2005–2019 by Herbert Henck
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