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Esel, Mantel, Hut und Hund
Vier Ausschnitte
von
Herbert Henck
Kap. 1 Esel
„Der Esel nennt sich zuerst.“ Diese für die „erste Person“ verbreitete Wahrheit, die unterstellt, hier wolle sich jemand über Gebühr hervortun,
trifft unter Umständen zwar zu, gilt indes nur bedingt. Es sei eingewandt, dass andernfalls vielleicht überhaupt niemand aufmerksam werden würde oder man anfangs Gesagtes oft schneller vergisst als Späteres, falls
das Spätere ermüdend lange auf sich warten lässt. Daraus geht nun wiederum hervor, dass auch der zeitliche Abstand eine Rolle spielt. So gesehen kann sich das Verhältnis geradezu ins Gegenteil verkehren, die Grenze
ist fließend, die Wahrheit beschränkt. Dem steht entgegen, dass der „erste Eindruck der wichtigste“ sei, eine Erkenntnis, die schon wegen ihres Superlativs Zweifel wecken muss, aber ebenso ihre Berechtigung
haben mag und somit in die Überlegungen einzubeziehen oder zu verwerfen ist.
„Vergleiche hinken“, und man vergleicht den Vergleich manchmal mit einem am Gehen Behinderten, als liege ein ärztlich attestierbares Übel vor. Ebenso
gut könnte ein Vergleich aber Wahrheit enthalten, erschließen, Einsichten vermitteln und Bewusstsein erzeugen. In dem Vergleich mit einem Esel kommt freilich nur Abfälliges zum Tragen, und ein Tier, das sich
aus Hochmut oder Gleichgültigkeit hervortut, um anderen seine eigene Bedeutung zu zeigen, zu beweisen und sie im Grunde zu demütigen, ist mir nicht bekannt. Dies sind menschliche, um nicht zu sagen
unmenschliche Eigenschaften. Darüber hinaus habe ich nur wenig dagegen, mit einem Esel verglichen zu werden, denn es sagt über den, der diesen Vergleich gebraucht, fast ebensoviel wie über den, auf den sich der
Vergleich bezieht. Wer den Esel jedoch für unbelehrbar, bockig oder stur hält, nur weil er sich nicht willig genug Vorschriften und anderen Anordnungen oder besser: Befehlen beugt, lässt das, was man ihm aufbürden
möchte, zum Natürlichen und Selbstverständlichen werden, geht allein vom Nutzen der Knechtung zugunsten eines sogenannten „höheren Wertes“ des Menschen aus und macht die Erfüllung des so gnaden- wie
erbarmungslosen Wunsches, der oft genug allein dem Eigennutz, dem Nützlichkeits-Denken des Auftraggebers entspringt, zum Notwendigen, ja Allerheiligsten der Unterdrückung. Gleichwohl ist der Esel ein liebenswertes,
friedliches und freundliches Tier, das seinesgleichen sucht, auch wenn Gehorsam vielleicht nicht zu seinen Stärken zählt.
*
Ich verließ das Haus zwanzig oder gar dreißig Minuten vor Ankunft und Abfahrt des Busses, obwohl man für den Weg zu seiner Haltestelle nur höchstens die
Hälfte benötigt. Doch ich fürchtete, dass der Bus zu früh eintreffen könne und ohne zu halten weiterfahre, weil offenbar niemand aus- oder einsteigen wollte. So hätte ich meine Absichten, die sich dieser Fahrt
verbanden, eventuell vertagen müssen, wozu wiederum höfliche und allemal anstrengende, erklärende Telefonate nötig sein könnten.
Jedenfalls wollte ich den Bus nicht versäumen und ihn vielleicht gerade vor mir wegfahren sehen. Lieber war es mir, eine Weile an der Haltestelle zu
verbringen, zu trödeln, wiederholt einen in meiner Tasche steckenden kleinen Wecker zu befragen oder das Fahrgeld vorzubereiten, den Fahrplan erneut zu studieren und Ähnliches. Gerne sah ich auch in der Gegend
umher, selbst wenn nur wenige Fahrzeuge des Wegs kamen; lutschte, ohne Husten zu haben und nur, weil es mir gut schmeckte, ein Hustenbonbon oder auch mehrere, vielleicht um mich zu beruhigen, und beobachtete die am
Himmel vorbeiziehenden Wolken, die langsam, aber ständig ihre Form änderten, ohne je sich zu wiederholen; oder das Werk der Ameisen auf den Gehplatten unter mir, das so unermüdlich wie durch die unachtsamen Schritte
der hier Wartenden lebensgefährlich war. Sie liefen umher, als könne ihnen auf Erden nichts etwas anhaben. Bei Menschen würde man wohl sagen, dass sie sich unvorsichtig verhielten. Aber bei Tieren? Ich hatte es
inzwischen aufgegeben, das Gewicht einer Ameise mit dem eines Menschen zu vergleichen, da mir die Mittel fehlten, das geringe Gewicht einer Ameise genau festzustellen (wahrscheinlich konnte man dies aber, exakt auf
das Milligramm, in den Büchern nachlesen), und so vermutete ich nur, ohne es aber zu wissen, dass das Gewicht eines Menschen vieltausendfach, vielleicht sogar millionenfach größer als das jeder Ameise und
vieler anderer Lebewesen ist, auf die man allein schon bei „Spaziergängen“, die uns so gesund und zuträglich erscheinen, ohne Absicht trat und auf denen man, ohne es zu ahnen, ein Feld von Toten und
Verwundeten hinterließ. Dass auch diese unscheinbaren Tiere alle ein Leben hatten, sich an den Strahlen der Sonne wärmten und sich vielleicht unter unseren Schuhen vor Schmerzen krümmten, sofern sie nicht gleich
starben, kam uns nicht in den Sinn, wie es offenbar auch der Umstand nicht tat, dass sie alle Opfer des so dringend notwendigen, stets überfälligen Baus von Straßen, Häusern, Brücken und anderem mehr werden
konnten und dass die eingesetzten Maschinen zugleich ein heimliches Werk der Vernichtung des Lebens hinterließen, das unser in Generationen gereiftes, ganzes Können und unsere mächtige Überlegenheit nicht einem
Riesen, sondern einem Wurm zeigten. So hing ich meinen unschönen Gedanken nach. Doch ohne meine Gedanken hier weiter entwickeln zu wollen oder so zu tun, als sei ich selbst besser, will ich, ohne ihnen irgend eine
Bedeutung für Andere beizumessen, damit nur sagen, welche Themen mich zeitweilig beschäftigten.
Aber ich stellte mich gut sichtbar auf, hatte die Abbiegung in der Ferne im Blick, hinter welcher der Bus früher oder später erscheinen musste, und wurde
umso aufmerksamer, mitunter auch nervöser, je näher der auf dem Fahrplan angegebene Zeitpunkt rückte. Was würde ich tun, wenn ich nun vergebens wartete? Und gab es eine Reihenfolge einzuhalten, was ich zuerst
tun musste und was dann später kam? Ich hatte von dem überdachten, nach vorne offenen und ziemlich neuen Wartehäuschen, in dem es sogar eine hölzerne Bank zum Niedersitzen oder Abstellen einer Tasche sowie
einen Papierkorb gab, noch eine kleine Strecke bis zu der Stelle zurückzulegen, wo ich in den Bus einsteigen konnte, und so war meine Vorsicht nicht ganz unbegründet. Die Maßnahmen und Überlegungen waren jedoch zum
Glück alle überflüssig, denn der Bus war pünktlich, kam wie erwartet hinter seiner Abbiegung hervor, und ich sah ihn rechtzeitig, weder von Wolken, Ameisen noch Hustenbonbons abgelenkt.
Das Geld, das ich bei dem Fahrer für die Fahrt zu entrichten hatte, war aus dem Portemonnaie zusammengesucht und griffbereit verstaut. Ich wechselte seinen
Ort indes mehrfach, so dass ich schließlich nicht mehr wusste, wo ich das Geld eigentlich verwahrt hatte, griff in leere Taschen und fing an zu suchen – was ich ursprünglich hatte vermeiden wollen. Ich fand es
jedoch bald wieder, legte nun aber, worauf mich der Fahrer einmal hinwies, zu wenig an die dafür bestimmte Stelle auf seiner Kasse, denn ich hatte mich geirrt, und die Fahrt war teurer, als ich sie in Erinnerung
hatte. So zog ich mein Portemonnaie wieder hervor, nahm eine größere Münze heraus und bezahlte den Rest, nahm das Wechselgeld, ohne es zu prüfen, aus dem Schälchen, in dem es geklirrt hatte, und suchte mir,
schwankend in dem fast leeren, bereits aber wieder anfahrenden Bus, einen Sitzplatz, mich hier und dort an den überall befestigten Griffen und Schlaufen haltend und im Widerstreit mit meinem Gleichgewicht
vorankämpfend. Endlich saß ich auf einer gepolsterten Bank, hatte niemanden zur Seite, so dass ich mich fast frei bewegen konnte, legte meine Tasche vor mir auf die Knie, verstaute den frisch gedruckten Fahrschein,
der auch den Preis zeigte, um ihn bei einer möglichen Kontrolle rasch zur Hand zu haben, und konnte, ohne jemanden stören zu müssen oder selbst gestört zu werden, den gewünschten Blick aus dem Fenster und die
Fahrt über das flache Land und die Dörfer genießen.
Ringsum gab es Felder, etwas Wald, einige Wiesen oder Wohnhäuser und nur wenige Geschäfte, wenn der Bus durch Dörfer und kleinere Gewerbegebiete an ihrem
Rand kam. Vor allem schienen es Schüler zu sein, die zustiegen oder den Bus verließen – Schüler, welche lärmten, worauf auch immer kauten oder in den Ohren die Stöpsel eines Kopfhörers mit dünnen Kabeln
trugen, was immer sie hören mochten. Die Mädchen hatten ihre Haare meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und draußen sah ich gelegentlich mehrere Leute an großen Kugeln Eis lecken, die sie auf einem
Waffelhörnchen hielten, denn es war Hochsommer und warm. Eine Frau stellte sich hinter den Fahrer und unterhielt sich mit ihm, sobald er von dem Verkehr und seinen sonstigen Pflichten nicht zu sehr in Anspruch
genommen war, verließ den Bus aber bald und winkte dem Fahrer nochmals zum Abschied zu; vielleicht war er ein Kollege oder Nachbar. Der Himmel war bedeckt, dank des Windes kam die Sonne aber immer wieder einmal zum
Vorschein, verschönte die Welt mit Licht, Schatten und Wärme, mit Wachstum, Blüte und Reife und brachte mit ihren Strahlen farbiges Leben in die Dinge.
Die Ernte hatte noch nicht begonnen, und die Pflanzen konnten sich noch ungehindert entfalten; außer dem Gras und den Hecken an Gehwegen, die man, um die
Zeit zu nutzen und weil es wohl notwendig wurde, bereits gemäht oder geschnitten hatte. Auf den Feldern stand das Korn und reifte noch, die Ähren beugten sich aber unter ihrem zunehmenden Gewicht mehr und mehr und
nahmen allmählich ein dunkleres Gelb, bisweilen sogar einen hellen bräunlichen Ton an. Und häufiger erreichte der Mais Höhen, die weit über der Größe eines Menschen lagen. Seine Kolben hatten sich ausgebildet, waren
aber von Hüllblättern so eng umschlossen, dass man das Gelb der reifenden Körner nirgends sah, und ein Büschel langer dunkler Staubfäden ragte aus ihrer Spitze.
Im Übrigen möchte ich kein Geheimnis machen aus dem, was mich zu dieser Fahrt in das nächste Städtchen bewog, auch wenn es niemanden interessiert, ich die
Ursache hintanstelle und sie im Grunde gleichgültig ist. Eine gewöhnliche augenärztliche Kontrolluntersuchung, der ich mich alles Vierteljahr zu unterziehen habe, ist jedoch bei ihrer Wiederholung und nach einer
Weile kaum etwas Besonderes mehr; sie ist zwar wichtig und notwendig, da sie mich eines Tages vor Blindheit schützen soll, wird aber alsbald zur Routine, die wie etwas Unvermeidliches hinzunehmen ist.
Es war die erste Woche, deren Tage alle im August lagen.
Kap. 2 Mantel
Sein Alter betrug nun an die zwanzig Jahre, und er ersetzte einen älteren Mantel, der verstaubt noch immer unter Jacken und anderen Mänteln an der Garderobe
im Flur hängt. Eines Tages wird der ältere Mantel in den Kleidercontainer wandern, den man in der Nähe aufgestellt hat und an dem Fahrzeuge hin und wieder anhalten und sich Personen zu schaffen machen. Beide
Mäntel waren von ähnlicher Länge, die etwa eine Handbreit über den Knien endete, und waren eher für die gemäßigten Zonen bestimmt. Beide hatten dieselbe dunkelblaue Farbe. Regnete es, wurde allmählich ein
Schwarzblau, ja fast Schwarz daraus, womit der Sonne etwas Wärme abgewonnen werden konnte. Sie wärmte dann zugleich seinen Träger, trocknete den Mantel aber auch schneller, und das Wasser drang selbst bei längerem
Regen nicht bis ins Innere durch. Das Material des neuen Mantels war mir unbekannt, wurde früher nicht hergestellt und übertraf jenes des älteren, leicht gefütterten Stoffmantels in mehrerlei Hinsicht. Es war ein
feineres und ohne jede Imprägnierung auskommendes wasserabstoßendes Gewebe, das sich weicher und etwas samtartig anfühlte, mag sein, dass es vorbehandelt war. Der neue Mantel hatte zudem viele Taschen, die mit
Klappen, Reißverschlüssen oder Klettband versehen waren, fast zu viele, um die Übersicht zu behalten und keine Fehler zu machen, wenn man ihn nicht täglich benutzte. Innentaschen hatte der alte Mantel zwar auch
gehabt, doch war alles nun besser überlegt und kam dem Gebrauch entgegen. Ich trug beide Mäntel, die leider keine Kapuze, sondern nur einen breiten Kragen besaßen und den Kopf unbedeckt ließen, jeweils von den
kälteren Herbsttagen an bis zu den wärmeren Frühlingstagen im nächsten Jahr, vom Frieren bis zum Schwitzen und wieder umgekehrt, schloss oder öffnete sie je nach Witterung, zog die Arme in die Ärmel zurück, wenn
mich die Insekten stachen, kehrte auch zu einer dünneren ärmellosen, aber gleichfalls für Wasser undurchlässigen Weste zurück und benutzte einen oder mehrere Pullover, wenn es mir zu kühl wurde. Auf diese Weise
wurden die Mäntel auch den Ansprüchen der Übergangszeiten gerecht.
Ein Reißverschluss hielt den Mantel anfangs vorne zusammen, doch die Reißverschlüsse duldeten nicht eine ständige Benutzung und versagten irgendwann an
jener Stelle, wo die Stoffhälften zu verbinden waren. Auch ein Klemmen des Schiebers kam vor, wenn der Saum eines benachbarten Stoffes miterfasst wurde. Der Stoff war dann erst wieder vorsichtig zu lösen, was
manchmal viel Zeit in Anspruch nahm, während Gewalt den Schaden nur vergrößerte und noch mehr Zeit kostete. Wollte überhaupt nichts gehen, musste ich den Mantel über den Kopf wieder ausziehen, den Mangel suchen
und ihn im Sitzen zunächst reparieren. Da es jedoch noch eine Knopfleiste über dem Reißverschluss gab, ließ ich Letzteren, um nicht jedesmal auf dieselben Probleme zu stoßen, alsbald auch offen, mühte mich nicht und
knöpfte den Mantel nur zu, wenn der Wind mir zu kalt hineinblies. Durch das Bücken, das häufiger vorkam, verlor nun jedoch der unterste Knopf (Druckknöpfe allesamt) seine Spannung, leierte aus, öffnete sich häufiger
von selbst und veranlasste mich ebenso zu erneuten Anstrengungen. Dann riss dieser unterste Knopf jedoch aus. Ich nahm all dieses notgedrungen hin, da die Befestigung neuer Knöpfe oder eines anderen
Reißverschlusses ein zu großer Aufwand war und sich zeigte, dass selbst ein ungebrauchter Mantel in kurzer Zeit schon wieder ähnliche Mängel hatte. Vielleicht wären die Schwierigkeiten oder Schäden zu vermeiden
gewesen, und ich war etwas zu anspruchsvoll und erwartete Dinge, die jenseits der vorgesehenen Möglichkeiten lagen, oder ging mit dem Vorhandenen einfach falsch um.
In den Taschen des neuen Mantels, von dem in dem wenig Folgenden allein die Rede sein wird, hatte ich vorwiegend Taschentücher aus Papier verstaut, zum Teil
auch in noch unangebrochener Packung als Reserve. Meist kam eine lange Hundeleine hinzu, verpackt in eine gelbe Tragetasche aus Plastik, deren Aufdruck inzwischen verblasst war; in eine der zwei größten und gut
erreichbaren Manteltaschen kamen einige Leckerlis für den Hund (die er oft wieder fallen ließ, wenn sie seinen Vorstellungen nicht entsprachen und er mich, wie ich glaubte, entrüstet ansah), gelegentlich ein
Schlüsselbund, einige Hustenbonbons (nicht nur wenn es kälter wurde), und anderes, an das ich mich nicht mehr im Einzelnen erinnere, doch ich befreite den Mantel von allzu Drückendem, wenn dieses nicht anstand. Geld
nahm ich nur ausnahmsweise mit, wenn es etwas zu bezahlen gab; doch da außer dem Bäckerwagen nirgends Geschäfte oder andere Einkaufsmöglichkeiten auf meinen Wegen vorhanden und selbst in dem Dorf selten waren,
verzichtete ich gewöhnlich auf die Mitnahme eines Portemonnaies und betrachtete es nur als Ballast, der störte.
Eines Tages machte mich, über eine Straßenkreuzung hinweg, eine junge Frau, die mit einem kleinen Kind unterwegs war, darauf aufmerksam, dass ich etwas aus
einer meiner Taschen verloren habe, was sie beobachtet zu haben schien. Da ich nach einem Absuchen des letzten Weges, auf dem ich gekommen war, aber nichts fand und an diesem Tage auch keine Handschuhe
mitgenommen hatte, die ich hätte verlieren können, vermutete ich, dass mir das Einwickelpapier eines Bonbons unbemerkt davongeflogen sei, welches ich gewöhnlich in einer Tasche des Mantels sammelte. Auch später
vermisste ich jedenfalls nichts.
Kap. 3 Hut
Die Bedeutung der Überschrift, die früher einmal „Unter dem Hut“ lautete, ist zunächst mir vorbehalten, denn hier handelt es sich nicht um etwas
Übertragenes, das stellvertretend für Anderes steht, sondern etwas auch heute noch Vorhandenes aus meinem ganz persönlichen Besitz. Dieses könnte man wohl auch als Alltägliches oder als
Gebrauchsgegenstand, ja selbst als Kleidungsstück bezeichnen, das einmal ausgedient haben und ans Ende seiner Tage gekommen sein wird. Das im Folgenden Gesagte trifft nämlich nur zu auf meinen alten Strohhut, dürfte
daher allenfalls jemanden interessieren, der einen Hut zu verschenken hat oder einen solchen zum Kauf anbietet.
Nicht umhin komme ich, einige Worte über diesen Strohhut und die Umstände seines Erwerbs zu verlieren, denn er hat natürlich, wie alles sonst auch, seine
eigene Geschichte. Vor mehreren Jahrzehnten kaufte ich ihn im Hochsommer in den USA, als es im Staate Colorado so heiß wurde, dass ich trotz mancher Vorsichtsmaßnahmen einen Sonnenbrand im Gesicht befürchtete.
Zwar gehörte der Kauf eines Hutes, da ich gewöhnlich keinen solchen trage, zu den seltenen Ausnahmen, doch war an diesem Ort und in dieser Jahreszeit tagsüber schon nach kurzem Aufenthalt im Freien und
besonders in der mittäglichen Glut das Auto oft fluchtartig wieder aufzusuchen, da nur dieses, möglichst im Schatten unter Bäumen und mit einem Spalt breit offenen Fenstern geparkt, über eine Klimaanlage verfügte
und Kühlung versprach. Alle stöhnten und litten unter der Hitze, und man erzählte mir gar von Spiegeleiern, die sich hier auf einer Karosserie braten ließen. Zu oft hörte ich damals aber die mir ungewohnte Einheit
der Fahrenheit für die herrschende Temperatur nennen, wodurch ich vergass, wie hoch die Anzeige in den mir vertrauteren Thermometern stieg, doch waren es sicherlich so etwa 47° Celsius. Die Sonne
„brannte“ auf der Haut, und es war ratsam, sich ihr möglichst schnell zu entziehen.
Mein Strohhut stammte aus einem der vielen Geschäfte, die den Touristen anboten, was ihrer Voraussicht entgangen war, im Gepäck störte oder sich nur schwer
unbeschadet transportieren ließ, in dieser Gegend aber dringend notwendig werden konnte. Der Hut war einfach und keinesweg teuer gewesen und erfüllte als Sonnenschutz hinreichend seinen Zweck. Vage erinnere ich mich
an einen Preis von sieben oder acht Dollar, doch hatte die Notwendigkeit diesen Preis sicherlich noch emporgetrieben. Ob er mir stand, war nebensächlich. Der Hut war mit einer breiten Krempe und einem aufgenähten
Band aus dünnem dunkelblauem Garn am Fuße seines Oberteils versehen, das man eine einfache Stickerei nennen könnte. Dieses Band war vielleicht der auffälligste, wenngleich ganz unaufdringliche Zierat und wohl auch
der einzige Schmuck des Huts.
Hierzulande übertraf sein äußerer Umfang das Gebräuchliche etwas, hatte aber den Vorzug, dass die Augen des Trägers besser im Schatten lagen, ein Vorzug,
der bei jeder Arbeit oder jedem Aufenthalt im sonnigen Freien sofort einleuchtete. Man sah auch auf den ersten Blick, woraus der Hut bestand, und das Stroh war nur mit einem klaren Lack überzogen, der sein helles
Strohgelb betonte, über die Jahre aber etwas nachzudunkeln schien – vielleicht durch seinen Aufenthalt in vergleichsweise dunklen Zimmern. Sonne dagegen schien, wie üblich, die Farbe zu bleichen, und auf meine
Frage hin erkärte man mir einst selbst in einer Klavierbauwerkstatt, dass hier eine elfenbeinerne Tastatur zum Bleichen in die Sonne gestellt werde, da ein Vergilben der Tasten durch zu dunkle Räume verursacht oder
verstärkt werde.
Natürlich hatte der Hut mit fortschreitendem Alter seine ursprüngliche Schönheit eingebüßt durch unsachgemäße Behandlung, schlechte Pflege, gelegentlichen
Regen, falsche Aufbewahrung und anderes; sonst sähe er ja noch heute aus wie neu. Einige Mängel gingen indes auf meine Sorglosigkeit und eigenes Verschulden zurück. Der Hut war mir zu Boden gefallen, ich hatte mich
zwar nicht auf ihn gesetzt, aber doch versehentlich auf ihn stützen müssen oder ihn auch achtlos beiseite geworfen. Mehrfach musste ich ihn von einem Acker oder aus einem Gebüsch holen, nachdem ein Windstoß ihn mir
vom Kopf geblasen hatte, und ich bedauerte, kein Hutband zu besitzen oder befestigen zu können, das mir diese Maßnahme hätte ersparen können. Dem Hund, der hierin ein neues Spiel witterte, war er gelegentlich
behutsam wieder zu entwinden, denn zu gerne hätte er hineingebissen, den Hut in kleine Stücke zerrupft oder ihn kurzerhand gefressen.
Alle diese Dinge hatten ihre Spuren hinterlassen, was ich andererseits als Vorteil empfand, da sie doch zeigten, dass man den Hut wirklich in Gebrauch
hatte, als Schutz vor der Sonne und nicht als Mittel, um zu beeindrucken und größer, bedeutender oder modischer zu wirken, allein aus Nutzen und nicht aus anderen Motiven. Diese „anderen Motive“
mögen zwar gelegentlich hinzugekommen sein, doch waren sie wohl nur anfangs ausschlaggebend für den Gebrauch des Hutes, den ich zunächst gerne aufsetzte, allein um seine Vor- und Nachteile kennenzulernen und mich an
ihn zu gewöhnen, wie man auch neue Schuhe zum regelmäßigen Gebrauch zu Hause erst „einläuft“. Wichtig waren nach einiger Zeit aber allein Sonne, Wind und Regen, wie stark sich beide bemerkbar und mir zu
schaffen machten, und dies bewog mich, nach einem Blick aus dem Fenster auf die Bewegung von Zweigen hoher Bäume, ihn vom Haken zu nehmen oder hängenzulassen.
Keineswegs waren diese Erfahrungen mit dem Hut aber planmäßig verlaufen, sondern waren rein
zufälliger und unsystematischer Natur. Ich dachte nicht daran, den Hut zu schützen, da er mich schützte. So war er alt geworden, so alt, dass sein Stroh mit der Zeit brüchig wurde, sein Dach an mehreren
Stellen abzubröckeln begann, allmählich kleine Löcher aufwies und sich besonders dort lichtete, wo es in die Senkrechte überging. Knicke bekamen dem Material nicht und führten unweigerlich erst zu kleinen, dann
größeren Schäden, bewirkten nach einigen Jahren eine gewisse Unansehnlichkeit und dehnten die Nachteiligkeit der Erscheinung schließlich auf die gesamte Gestalt aus. Denn auch die Krempe oder jene im Dach des Hutes
vorhandene Einbuchtung litten, die ich meist, ohne ihre Empfindlichkeit noch zu ahnen, beim Auf- und Absetzen zunächst immer an derselben Stelle anfasste. Dann bemerkte ich die Folgen meines Gebrauchs, und meine
Finger, die den Hut fortan schonender ergreifen wollten, rückten etwas weiter. Doch die Schonung kam zu spät.
So verlor der Hut zusehends an Stil, und sein Träger war, wenn man so will, anfangs vielleicht der Besitzer einer bescheidenen Plantage, später eher ein
einfacher Arbeiter auf einer solchen, der sein weniges Geld lieber für Notwendigeres ausgab und den Hut in seiner Freizeit zu reparieren wusste. So verkörperte der Hut in gewisser Weise die Welt seines Trägers und
war, wie alle Kleidung, ein Merkmal von Luxus, Geld und Geltung, Arbeit, Freizeit und Ansehen. Doch da ich nicht mit dem Hut betteln gehen wollte und nichts öffentlich feilzubieten habe, was sein Aufstellen für den
Empfang einer „milde Gabe“ oder als gelegentlich laut zu schüttelnde Sammelbüchse gerechtfertigt hätte, war mir sein Aussehen ziemlich egal.
Ein Ende des Hutlebens war indes abzusehen, die Stunde der Trennung kam näher, und das gute Stück, ein alter Freund und Begleiter, der immer zur Hand
war, wenn man ihn brauchte, war, da er seinen Zweck nicht mehr erfüllte, früher oder später auszurangieren. Die Bemühungen um eine fachgerechte Reparatur lagen jenseits meiner Möglichkeiten, da es mir sowohl an dem
richtigen Material wie auch an Übung fehlte. Ein Ausbessern hätte die bestehenden Schäden womöglich vergrößert und den Hut nach einiger Mühe noch unansehlicher gemacht. Und eine Aufarbeitung oder Reparatur war den
Aufwand kaum wert, denn die zu behebenden Schäden machten das Massenprodukt zum Einzelstück, die Ausbesserung musste gut überlegt sein, und die anfallenden Kosten hätten den Preis eines Neuerwerbs wohl weit
überstiegen.
Ersatz war freilich nicht ganz einfach zu beschaffen, denn Ähnliches wurde hierzulande, in kühleren Zonen, nicht an jeder Ecke verkauft, und so
benutzte ich den alten Hut trotz seiner sichtlich zunehmenden Mängel noch weiter, tat indes nichts, hoffte auf die Zukunft und ließ die Dinge treiben, wie sie nun einmal waren. Da ich den Hut aber nicht täglich
verwendete, fristete er gewöhnlich ein Schattendasein in dem Flur, wo er über eine alte Wandlampe, die nie eingeschaltet wurde, gestülpt hing, griffbereit, doch vor jedem neuerlichen Gebrauch erst im Freien
abzubürsten oder abzuklopfen, um ihn vom gröbsten Staub und absplitterndem Stroh zu säubern.
Gelegentlich muss ich meinen Wunsch nach einem neuen Hut allerdings angedeutet haben, denn alsbald wurde mir ein anderer Hut zum Geburtstag geschenkt, der
meinen Ansprüchen wieder gerecht wurde. Bei einem Telefonat maß ich meinen Kopfumfang mit einem langen Lineal und gab das Ergebnis dann durch, durch welches ein Umtausch unwahrscheinlicher wurde. Der neue Hut war
nicht aus Stroh, sondern wahrscheinlich aus einer Art von Schilfblättern angefertigt, die mehr Biegsamkeit versprachen und dem Ganzen ein lichtbraunes, fast beiges Aussehen gaben, der aus dünnerem Material
geflochten und etwas kleiner, zierlicher und demnach leichter war als das frühere Modell. Den alten Hut einfach wegzuwerfen, weil er sein Soll erfüllt hatte und sein Nachfolger bereitstand, brachte ich jedoch nicht
übers Herz, denn eine gewisse Anhänglichkeit an das Vertraute und eine Art von Dank für empfangene Dienste blieben bestehen. Dass sein fernerer Gebrauch vor allem im Liegen geschah, ich dafür meine Brille
absetzen musste und der Hut dann als Sonnenschutz flach auf meinem Gesicht lag, wo er bei jedem kräftigeren Windstoß schaukelte und schließlich verrutschte, störte mich nicht besonders, da er sich noch ziemlich gut
wieder in seine alte Position bringen ließ und ich mich zuvor schon nach einem sonnigen und möglichst windstillen Eckchen im Garten umgesehen hatte. Hierdurch geriet nun aber meine Nase in nächste Nähe des Hutes,
und ich hatte Gelegenheit, seinen Geruch unmittelbar und ausgiebig wahrzunehmen, während ich durch die kleineren oder größeren schadhaften Stellen ins Freie blinzeln konnte. Zwar sah ich in meine Umgebung nun ohne
Brille, etwa einzelne Äste oder kleine Ausschnitte des Himmels und von Wolken, selten und mit etwas Glück sogar einen Vogel oder ein Flugzeug. Doch da die kleinen Löcher als eine Art von Lochblende wirkten, war
zugleich alles etwas schärfer, wenn auch dunkler als in Wirklichkeit.
Es war aber vor allem der Geruch der Lackierung, den ich gerne hatte, und jedesmal, wenn ich den Hut in der beschriebenen Weise gebrauchte, nahm ich seinen
feinen süßlichen Duft wahr, der einem angenehmen, leicht bitteren Vanillearoma glich, während ich die Augen nur aufschlug, um einem störenden Geräusch nachzugehen oder den Hut nach einem Verrutschen wieder
auszurichten. Bald wurde dieser Geruch, der keineswegs sehr stark, sondern eher unaufdringlich und dezent war, in seiner Art unverwechselbar und daher kaum beschreibbar ist, eins mit dem Gebrauch des Hutes, und
hätte er, aus welchen Gründen auch immer, plötzlich gefehlt, hätte ich gedacht, dass irgend etwas nicht stimme.
Unter dem Hut hatte ich nun jedenfalls ein ungestörtes Plätzchen und konnte mich so sehr entspannen, dass ich in der nachmittäglich mich einhüllenden
Wärme und Ruhe mehrfach einschlief. Dies war mir nicht unlieb, denn der Garten, in dem ich mich befand und den Hut manchmal trug oder besser: auflegte, war recht schattig, und ein Sonnenbrand, der beim Verrutschen
des Hutes hätte entstehen können, war nur im Hochsommer und an wenigen Stellen zu befürchten. Mit dieser Möglichkeit hatte ich aber, wie gesagt, gerechnet und bereits beim Aufstellen meines Liegestuhls Rücksicht
genommen.
Mehrere Male musste ich unter dem Hut an eine Hutweide denken, deren Aufgaben ich mir in jungen Jahren nur in Abhängigkeit von zu tragenden Hüten
vorstellen konnte, deren wirkliche Aufgabe mir durch ihre zwei doppeldeutigen Bezeichnungen aber lange verborgen blieb. Es handelte sich aber nicht um eine Trauerweide, an der viele Hüte hingen, und erst als ich
mich belas und merkte, dass mit diesen Weiden keine Bäume, sondern Grasflächen für die Nahrung der Tiere gemeint seien, die nicht den Hüten, sondern dem Hüten zugedacht waren, durchschaute ich meine Fehler und
änderte mein Verständnis, auch wenn die Wörter wahrscheinlich auf dieselbe Herkunft zurückgingen.
Soweit ich mich erinnere, haben meine Eltern nie einen Hut getragen, abgesehen von einem schwarzen Zyklinder, den mein Vater bei seiner Hochzeit aufhatte.
Da die Hochzeit, die 1944 stattfand, auf einem Schmalfilm überliefert ist, entsinne ich mich dieser Kopfbedeckung sowie einer Kutsche, in der die Brautleute damals fuhren. Vermutlich war es dieser Zylinder, ein
Chapeau Claque, den meine Eltern in einem rissigen schwarzen und flachen Karton, nicht unähnlich einer Tortenschachtel, in ihrem großen Kleiderschrank bei alten Mänteln und anderem selten Hervorgeholtem verwahrten,
und mit dem ich manchmal als Kind spielte, indem ich ihn aus seiner Ruhelage laut und kräftig hochschnellen und die Stoffbespannung sich glätten ließ. Doch setzte ich ihn auf, was ich sicherlich einmal tat, erschien
er mir immer zu unbequem und steif, da der Stoff infolge seines Alters dünn und brüchig und sein Metallgestell an der ein oder anderen Stelle inzwischen hervorgetreten war, so dass er nach kurzem Tragen drückte,
rieb und schmerzte und ich ihn daher nie längere Zeit aufsetzte. Mein Vater trug, meiner Erinnerung nach, diesen Zylinder später nie mehr, und die Fahrt in der Hochzeitskutsche scheint die einzige Gelegenheit
gewesen zu sein, diesen Zylinder, passend zu der ernsten, schwarzen Kleidung und ihrer Feierlichkeit, aufzusetzen.
Ich war noch zu klein, um mich an die Begebenheit selbst zu erinnern, aber vielleicht war es auch dieser Zylinder, als sich mein Vater einst als Nikolaus
verkleidete, wobei ihm der Hut aber verrutschte und beinahe herabfiel und er hierdurch von meiner Schwester erkannt wurde, ein Geschehen, an das sie sich auch viele Jahre später noch erinnern konnte.
Kap. 4 Hund
Das Loslassen von der Leine war mit Sicherheit die aufregendste, vielleicht aber auch eine der wichtigsten und schönsten Erfahrungen, die ich im
Zusammensein mit dem Hund hatte. Einerseits war es zwar eine Befreiung von dem ihn führenden Menschen, andererseits zeigte es eine große Treue, Abhängigkeit und berührende Anhänglichkeit des Hundes. Zu Anfang
– was freilich sehr großzügig zu verstehen ist, da es an die vier Jahre dauerte, mich zu überwinden – zu Anfang wurde ich, da ich nur wenig Erfahrung im Umgang mit Hunden besaß, schon dann von geradezu
panischer Sorge, ja Angst ergriffen, wenn mir die gut zehn Meter lange Leine, eine sogenannte Schleppleine, aus der Hand rutschte und ihre am Ende befindliche Schlaufe auf dem Weg vor mir uneinholbar wurde; wenn mir
der Hund gewissermaßen davonlief, das Weite suchte und froh über seine neugewonnene Freiheit schien. Doch war der Schritt, aufs Ganze gesehen, für mich selbst wohl größer als für den Hund. Er kam bei meinen ersten
Versuchen, ihn freizugeben, zunächst nicht von alleine wieder, und alles Rufen brachte ihn nicht zurück. Er war hoffnungslos in einem der hohen Maisfelder verschwunden, und ich konnte seinen Weg nur an den hier
und dort schwankenden großen Pflanzen verfolgen, die er unten unsichtbar im Vorüberlaufen streifte. Zu meiner Erleichterung und Freude kam er aber plötzlich doch von selbst, wedelte freundlich und benahm sich wie
immer, ganz unerwartet und als wäre nichts geschehen. Dieses wiederholte sich einige Male, bis ich endlich auch meinen Vorteil darin sah und merkte, dass sich ohne Leine viel selbständiger und ungezwungener gehen
ließ, auf Unebenheiten des Weges besser zu achten war und ich mein eigenes Tempo nach Kräften einrichten konnte. Das Lösen der Leine hatte somit sein Gutes für uns beide, für den Hund wie für mich, auch wenn es mir
lange Zeit noch bedenklich erschien. Doch wenn sich auch selbst heute neben einer gesteigerten Aufmerksamkeit ein leicht ungutes Gefühl dabei noch nicht ganz verloren hat, nimmt dieses doch ab, und es steht zu
erwarten, dass es über Jahr und Tag einmal ganz verschwunden sein wird, sobald ich mich den Bedürfnissen des Hundes angepasst und darüber hinaus größere Selbstsicherheit gewonnen habe.
Gleichwohl verzichtete ich fortan auf einigen Strecken – vor allem solchen, die mit Gras überwachsen waren, durch geraden Verlauf gut übersehbar waren
und auf denen gewöhnlich keinen großen Fahrzeuge verkehrten – mit einiger Regelmäßigkeit auf die Leine. Ich konnte es nicht länger hinausschieben, den Hund freizulassen, und war es mir in gewisser Weise
schuldig, mit Schwierigkeiten einer bestimmten Art und Größe, zu der auch eine weitgehende Hilflosigkeit zählte, alleine fertigzuwerden. Ich wusste ja von Anfang an, worauf ich mich einließ. Die Wochen vor
Sommerbeginn hielt ich jedoch genau ein, in denen es, vor kurzem geborenen und jungen Tieren zuliebe, gesetzlich vorgeschrieben war, den Hund anzuleinen. Es war eben die Schonzeit. Gleichwohl behielt ich den Hund
immer im Auge, zumal er nicht mir, sondern meiner Tochter gehörte, die ihn einst in Bremen erworben hatte und auf deren Worte er vom ersten Tag an besser hörte als auf die meinen. Meiner Tochter lief der Hund
zwar ebenso davon, doch kam er auch hier stets von alleine wieder zurück. Sein dramatischstes Verschwinden erlebte indes auch meine Tochter. Nachdem er etwa eine halbe Stunde lang nicht mehr auffindbar war,
lief der Hund von selbst nach Hause zurück und wartete bereits vor der Haustüre, nachdem er in den abgelegensten Winkeln gesucht und niemand müde geworden war, seinen Namen zu rufen und ihn herbeizulocken.
Keiner hatte aber damit gerechnet, ihn vor der Türe anzutreffen, so dass er mit Überraschung, doch zugleich auch aufatmend und selbstverständlich mit großem Hallo begrüßt wurde. Gleichviel war ich wohl der
Ängstlichste auf diesen Spaziergängen, denn ich war zu pessimistisch und unterschätzte die Fähigkeiten des Tieres erheblich, im Ernstfall auch ohne fremde Hilfe nach Hause zurückzufinden.
Lief der Hund, mit dem ich vormittags fast regelmäßig ausging, manchmal auch bis außer Hörweite vor mir her und zögerte manchmal nur bei Abbiegungen des
Wegs, so wandte er sich doch bald kurz um, um zu sehen, ob ich ihm folge oder wo ich sonst bleibe. Zunächst versteckte ich mich einige Male, um zu sehen, ob er mich suche, ließ dies bald aber wieder sein, da es
mir zu künstlich erschien und ich den Hund nicht täuschen wollte. Sonst versuchte ich, das Tempo des Hundes vor mir zu bremsen, indem ich ihm begütigend, doch laut, manchmal in übertriebener Vorsicht und
Sorge auch schreiend, mehrfach ein „Haalt! – Haaalt!“ oder ein „Nein – nein!“ zurief, solange ich glaubte, ihn noch erreichen zu können und wir an eine etwas verkehrsreichere Straße
kamen, dann aber, je mehr ich mich dem Hund näherte, meine Lautstärke auch wieder senkte und mich beruhigte. Wendete er sich davor zu mir um, gab ich ihm mit den Händen oder auch meinem Schirm, auf den ich mich
notfalls stützen konnte, einige ausladende Zeichen, auf mich zu warten, worauf er meistens, jedoch nicht immer und vielleicht nur, weil er ohnehin stehengeblieben und neugierig war, was ich da mache, ruhiger lief,
ich ihn bald einholen und gegebenenfalls auch an seinem Geschirrchen kurz festhalten konnte. Danach gingen wir eine Weile wieder gemeinsam. Später setzte er sich, wenn er sah, dass ich die Knoten und Schlingen aus
seiner langen Leine zu lösen versuchte, oder legte sich sogar hin, wenn ihm dieses zu lange dauerte, solchermaßen zeigend, dass es ihm nicht um diese kleine Verzögerung zu tun war. Die zwei Wege, auf denen wir
täglich abwechselnd gingen, kannte er jedoch gut und lief zumeist auch im Voraus bei Abbiegungen schon in die richtige Richtung. Nahmen wir jedoch, nachdem wir stets dieselbe Richtung eingeschlagen hatten, eine neue
Abbiegung, so lief er schnurstracks zunächst jedesmal die ihm bekannte Strecke entlang, worauf ich ihn durch Vorausgehen und große Bewegungen mit meinem Schirm so lange hinwies, bis er merkte, dass es heute
woanders, als er dachte, weitergehe. Dann lief er auf dem kürzesten Weg herbei, zum Beispiel quer über das Fußballfeld am Waldrand, und hatte mich bald, da er sichtlich eilig war, wieder eingeholt. Auch kam es vor,
dass er mir zu lange mit irgendetwas beschäftigt war und ich beim Warten nichts als Löcher in die Luft sah. So setzte ich mich wieder in Bewegung und ging ein Stück voraus, da ich sicher war, dass er irgendwann
nachkommen werde. Dieses hörte ich auch alsbald, da er hinter mir außer Atem schnaufte, sobald er mich wieder erreicht hatte. Und sobald er mich überholte und ich ihn dann wieder sah, sagte ich oft zu ihm „Ei,
da ist ja das Hundchen!“, als habe ich lange auf ihn warten müssen und sei überrascht, ihn nun wieder zu sehen. Es waren aber nur zwei oder drei Minuten vergangen, doch ich freute mich,
dass er mich dann suchte, von selbst wiederkam und eine Weile bei mir blieb.
Das Wiederanleinen nahe an einer etwas häufiger, aber ganz unregelmäßig befahrenen kleinen und asphaltierten Straße war, entgegen meinen Befürchtungen,
zumeist nicht schwierig. Der Hund wartete, ich konnte ruhig herankommen und die Leine an dem Metallring seines Geschirrchens, das er auf dem Rücken trug, rasch wieder mit einem Karabinerhaken befestigen. Nichts wies
darauf hin, dass ihm dies unlieb und nicht in der verabredeten Ordnung sei oder sonst etwas Unerwartetes habe, wie auch das Ableinen nie etwas Auffälliges hatte. Der Hund setzte seinen eingeschlagenen Weg
in der einmal gewählten Geschwindigkeit unbekümmert fort, und lief zunächst ganz so, als ob er sich auch jetzt noch an der Leine befinde, schnüffelte am Boden herum, fraß etwas frisches Gras einer größeren
Sorte, manchmal auch Heu, lief im flachen Wasser eines Grabens entlang oder hob öfters sein Hinterbeinchen an einem Busch, einem auffälligen Stein oder einem kleinen Erdhügel, wie dies Hunde eben tun. Er suchte
sich am Rand unseres Weges eine ruhige und trockene Stelle und trat, manchmal den gewählten Platz wieder wechselnd und sich dann im Kreis drehend, das Gras herunter, um sich mit einem kleinen Karussell, wie ich
es nannte, für das Produzieren des Folgenden vorzubereiten. Jeder, der einen Hund ausführt, dürfte die gesegnete Verdauung dieser Tiere kennen. Dann, nach einem käftigen Kratzen auf dem Boden, wie es auch
Katzen etwas weniger entschieden tun, ließ er das Ergebnis seiner Bemühungen hinter sich, eilte davon oder steigerte sein Tempo allmählich wieder, je nachdem, besonders wenn es abwärts ging, so dass er nach
einer Weile wieder deutlich vorauslief, was indes seiner normalen Geschwindigkeit eher zu entsprechen schien. Mag sein, dass er durch sein Vorauslaufen vielleicht auch nur kundtun wollte, dass ihm der Weg, den wir
wiederholt nahmen, wohlbekannt sei und er unabhängig davon war, dass ich ihm die Richtung zeige, in der es weiterging, und natürlich lobte ich ihn oft für seine Voraussicht, vielleicht zu Recht oder zu Unrecht, es
war egal. Ich nannte ihn manchmal aus Spaß, aber keineswegs immer, das Schnauzentier, wobei ich die zwei Silben am Ende des Wortes französisch
aussprach, so dass es klang wie Schnauzontjeh, das „o“ nasal, die letzte Silbe betonend und wie Hotelier oder Portier aussprechend. Es machte ihm nichts aus und war ihm einerlei, wie ich ihn hieß.
Nur wenn er einige Wildenten oder gar einen Hasen in einem Graben aufstöberte, schoss er unversehends und dann wie der Blitz davon und hinter ihnen her,
ohne aber einer Beute je habhaft werden zu können. Doch immerhin, es ließ sich nur schwer voraussehen. Die Leine pfiff durch meine Hände und hinterließ durch die Reibung und Hitze, die jetzt entstanden,
natürlich mitunter ihre Spuren. So hatte ich darauf zu achten, die Leine gerade in solchen Augenblicken zu lockern, in denen sie mir zunächst am nützlichsten erschien. Bald drehte ich mich in diesen Momenten
aber einmal um mich selbst, so dass die Leine, ohne sie loslassen zu müssen, sich erst um mich herum schlang und nun meine Oberarme und Kleider umwickelte, wodurch das Geschehen zum Wohl meiner Hände abgepolstert
wurde.
Manchesmal verfing sich der Hund auch in der Leine, da sie meistens auf dem Boden schleifte und er sie hinter sich her zog. Ich hielt ihn jedoch zurück,
wenn ich sah, dass er das Malheur nicht alleine lösen konnte, ließ ihn niedersitzen und befreite ihn, sobald die Leine ihm schräg über den Rücken lief oder sich um eines seiner Hinterbeine geschlungen hatte. Fast
immer gelang diese Prozedur sofort, wenn ich ein Hinterbein von ihm anhob, er verstand sie und merkte schnell, dass sie ihm das Leben erleichterte, und gewöhnlich hob er nach einiger Übung dabei von selbst
das umwickelte Bein empor, damit ich mich seiner annehme.
Es kam auch vor, dass der Hund wieder zurücklief, um etwas kurz zu besehen oder zu beriechen, als habe er dieses zuvor übersprungen oder übersehen und
wolle das Versäumte nachholen. Aber da er immer wieder von alleine auftauchte und sich bald auch nach mir schnell umsah, wuchsen meine Zuversicht und mein Vertrauen. Etwas größeren Abstand hielt er zeitweilig allein
von einer dichten Hecke, hinter der ein anderer Hund, ohne zu bellen, kurz aber mächtig rumorte und sogar hörbar die Zähne fletschte, wenn wir vorbeikamen; aber das genügte reichlich zu zeigen, dass er auf Haus und
Garten aufpasse und mit ihm nicht gut Kirschen essen sei. Nur Dinge, die sich dem Vortag gegenüber verändert hatten, betrachtete der Hund misstrauisch, knurrte manchmal leise ein wenig und näherte sich ihnen
mit Zurückhaltung und Bedacht, wenn beispielsweise ein Feld plötzlich abgeerntet war, wenn ein Heuwagen unversehens am Weg stand, um erst später abgefahren zu werden, oder wenn Mülltonnen oder -säcke unsere Richtung
versperrten. Da dies alles sich jedoch nicht veränderte, keine Laute von sich gab und unbeweglich stillstand, nahm der Hund es schnell als etwas Naturgegebenes, Unabänderliches und Unvermeidliches hin, um das er
sich nicht weiter zu kümmern brauche. Nach kurzem Beäugen und Beriechen des Neuen hüpfte der Hund wieder wie zuvor über die Gräben, mied aber, wie üblich, die Bretter in Häusernähe, die das Hinüberbringen
angefaulten Fallobstes oder herabgefallener Blätter mit einer Schubkarre auf den Acker erleichterten.
Beim Ziehen an der Leine, das mich öfters außer Atem brachte, dem ich aber eine Weile nachgab, versuchte ich vergeblich, dieses dem Hund mit dem Zuruf
„Sitz!“ abzugewöhnen – das einzige Kommando, auf das er zuverlässig hörte und das er offenbar verstand. Nach diesem Zuruf setzte er sich fast immer, aber stets ohne Hast und, wie ich glaubte, mit einer
etwas beleidigten Miene, stand aber auch sofort wieder auf, sobald ich weiterging, so dass ich dann den Zuruf „Bleib!" gebrauchte, wenn auch oftmals ohne jegliches sichtbare Ergebnis. Es war wie bei den
Menschen: Manchmal war ein Erfolg zu verzeichnen, das nächste Mal hatte er seine Ohren auf Durchzug gestellt und ließ sich nicht stören in dem, womit er gerade beschäftigt war.
Aber hinsichtlich des Vorauseilens war eigentlich kein Unterschied zwischen „mit Leine“ und „ohne Leine“ feststellbar, und ich versuchte
natürlich, das Tempo des Hundes als Vorgegebenes anzusehen, doch manchmal gelang es eben nicht, und ich war dann eben derjenige, der spazieren geführt wurde, bis ich mich schließlich ganz überfordert sah, außer Atem
war und stehen bleiben musste, wobei ich dem Hund dann etwas verdrießlich zurief, dass es so nicht gehe; sein Tempo sei zu groß für mich, und er müsse eben warten, bis ich nachkomme; ich sei ja etwas älter als er,
und er müsse mehr Rücksicht nehmen.
Auch blieb der Hund zunächst immer wieder einmal plötzlich stehen, um etwas genauer zu untersuchen, und kreuzte meinen Weg so dicht vor mir, dass ich Mühe
hatte, ihm auszuweichen und nicht über ihn zu stolpern oder zu fallen. Später dann nahm er, Schnauze voran, unvermittelt einen kleinen Anlauf und wälzte sich auf dem Rücken liegend, die vier Pfoten in der Luft, wie
ich es auch bei Kühen oder auch Pferden gesehen habe, vorzugsweise in kurzem oder gar frisch gemähtem Gras oder im Winter in frisch gefallenem Schnee, schüttelte sich darauf kräftig, solchermaßen das Ende seiner
Fellpflege zu zeigen, und lief weiter. Egal ob er zog oder schleppte, hetzte oder trödelte oder sich zur Abwechslung keineswegs selten wälzte, solche kleinen Überraschungen waren auf unseren Spaziergängen stets zu
erwarten, doch wusste ich bald, was kommen könnte, und war allein durch die Gewöhnung auf derlei besser gefasst.
Gingen wir, wie gesagt, vormittags, oft zwischen 8 und 10 Uhr, spazieren und kamen wir auf dem
Rückweg dabei in die Nähe der Hauptstraße, sahen wir bisweilen den Bus in der Ferne vorüberfahren, jenen, der genau um 9 Uhr ab Ortsmitte in Richtung Bremervörde oder den, der etwas später über Selsingen zum
Busbahnhof am Zevener Rathaus fuhr. Gelegentlich konnten wir auch beide Busse sehen, und manchmal trafen wir einen von beiden erst, wenn wir wieder in die Schulstraße einbogen, wo er uns schnell überholte. Am
häufigsten kam jedoch kein Bus des Wegs, wir warteten nie auf einen solchen und vermissten ihn nicht, sahen ihn jedoch zugleich gerne. Ob dies aber auch für den Hund gilt, weiß ich natürlich nicht.
Der Name des Hundes, den meine Tochter Jana einst gefunden und gekauft hatte, ist Cino, die zweite Hälfte von Cappuccino, wie sie es auch auf das
Geschirrchen des Hundes sticken ließ, denn es zeigte gut die Farbe seines Fells an, die einem mit Milch verdünnten Kaffee zwischen Weiß und einem hellen Braun glich. Selbst in dichtem Gebüsch leuchtete er, und man
sah ihn meistens auch hinter Zweigen und hohem Blattwerk durchschimmern oder sein Fell in der ersten Furche der hohen Maisfelder aufblitzten, wenn er, etwas versteckt, in einer solchen entlang lief. Dabei war seine
Färbung aber ungleichmäßig verteilt und keineswegs einheitlich oder symmetrisch. Er hörte auch auf den Namen Cino und hob den Kopf oder kam sogar herbei, wenn man ihn rief. Als ich ihm, leise und mit Absicht
den Namen Janas nicht betonend, sondern im Gegenteil nur undeutlich aussprechend, erzählte, dass sie zur Zeit in Italien sei, doch bald zurückkommen werde, sprang er sofort auf und eilte in den Laden des Hauses, wo
er, mit den Vorderpfoten auf dem Fensterbrett stehend, sehen konnte, ob Janas Auto schon wieder auf seinem angestammten Platz sei und sie sich vielleicht schon auf dem Weg ins Haus befinde.
Cino war vielleicht etwas kleiner als ein ausgewachsener Schäferhund, doch ein „schöner Hund“, wie mir ein anderer Spaziergänger einst sagte. Die
Vorderpfoten hob er nacheinander empor, sobald meine Tochter ihn ansah und mit offener Hand und den Worten „Pfote“ und „andere Pfote“ dazu aufforderte – ein Kunststück, das mir zwar auch möglich
war, aber nur gelegentlich glückte. Selbst „Give me five“ konnte er mühelos ausführen, wenn sie ihm dazu den Anstoß gab: hob eine Pfote in die Höhe und schlug gegen ihre offene Hand, die sie ebenfalls etwas
angehoben hatte. Doch ich will den Hund nicht nur loben, es gibt auch einige Nachteile. Hatte ich aber zunächst geglaubt, Hunde seien für mich weniger gut geeignet, da ich mit Katzen aufgewachsen war und viele Jahre
auch selbst Katzen hielt, so sah ich doch bald ein, dass ich hier einer Täuschung unterlag. Denn was ich bereits an einem einzigen Hund an guter Laune, Wachheit, Lebendigkeit, Geselligkeit, Gutmütigkeit
und Freundlichkeit, Selbständigkeit und Anhänglichkeit, Übermut und Geduld erlebte, besiegte schnell alle Skepsis und Vorbehalte, übertraf jede meiner Erwartungen und konnte kaum mithalten mit dem, was ich an
anderen Tieren, ja manchmal selbst an Menschen erfahren hatte. Bissig war Cino bis heute kein einziges Mal. So hätte ich fortan nur ungern auf Hunde verzichtet, da sie mir lieb geworden waren, auch wenn es erst
mancher Umstellung bedurfte. Aber diese wurde angesichts des Ergebnisses sehr gerne in Kauf genommen.
hauptsächlich August 2013 bis Dezember 2014
Erste Eingabe ins Internet: Dezember 2014
Letzte Änderung: Montag, 15. August 2016
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