Arbeitsscheuer  (Teil 1)

 

Häftling Nr. 037880

Peter Henck, Arbeitsscheuer

Autobiographische Studien V

Teil 1

 

von

Herbert Henck
 

 

 

                  Teil 1
                  
                  Kapitel   1      Bedenken und neue Forschungen
                  Kapitel   2      Erste Ergebnisse
                  Kapitel   3      Das erste Telefonat mit H. P.
                  Kapitel   4      Unterstützung aus dem Landesarchiv Berlin
                  Kapitel   5      Das zweite Telefonat mit H. P.
                  Kapitel   6      Chronologie, Der „Lübecker Volksbote“, Detailarbeit
                  
                  
                  Teil 2
                  
                  Kapitel   7      Gräber, Behörden, Gebühren. Ein Ölgemälde
                  Kapitel   8      Entnazifizierung, Die „P.-Papiere“
                  Kapitel   9      Unkosten, Verzögerungen, Widerstände
                  Kapitel  10     Stahnsdorfer Friedhof
                  Kapitel  11     Betteln. Im Hamburger „KoLaFu“
                  Kapitel  12     Eine Zeichnung. Der Friedhof in Wedel
 

 

 

 

 

Erstes Kapitel
Bedenken und neue Forschungen

Inzwischen bin ich meiner ursprünglichen Absicht untreu geworden und habe begonnen, verschiedene Archive und Institutionen anzuschreiben, um Genaueres über einige Angehörige meiner Familie in väterlicher Linie zu erfahren. Meine Nachforschungen über das traurige, beschämende und nach heutigen Maßstäben geradezu unvorstellbare Schicksal des Komponisten Norbert von Hannenheim hatten mich in den vergangenen Jahren vielfach mit dem Thema der sogenannten Euthanasie im Dritten Reich in Berührung gebracht, und mir ging nicht mehr aus dem Kopf, was mein Vater über Peter Henck, den Sohn meines Großonkels Fritz Henck, erzählt hatte. Im vorangehenden Abschnitt dieser Aufzeichnungen wurde das mir Bekannte bereits mitgeteilt.

So konnte ich es mir über lang oder kurz nicht verzeihen, das Schicksal eines zur Familie Gehörigen fast gänzlich zu übergehen und zu vergessen, in gewisser Weise unwidersprochen hinzunehmen und dem nun bereits über Jahrzehnte sich erstreckenden Verblassen der Erinnerungen, das einem willentlichen Verschweigen oder zumindest doch einer Gleichgültigkeit nahe kam, anheim fallen zu lassen, während ich nicht anstand, auf die Erforschung fremder Schicksale, auch wenn sie mich bewegten und gar eine Art von öffentlichem, ja selbst musikgeschichtlichem und wissenschaftlichem Interesse beanspruchen durften, einen beträchtlichen Teil meiner Zeit zu widmen. Darüber hinaus erscheint mir die Trennung, was hier öffentlich von Bedeutung sei und was nur dem privaten Bereich angehöre, recht fragwürdig und ganz abhängig vom jeweiligen Standpunkt zu sein, denn in beiden Fällen, bei Peter Henck ebenso wie bei Norbert von Hannenheim, handelte es sich wohl um obrigkeitliche Willkür und Verbrechen, die der nationalsozialistische Staat an Einzelnen seiner Mitglieder verübte, und man kann keine Unterscheidung an Hand des Umstandes treffen, ob einer sich durch künstlerische Werke aus der Menge der Anonymität hervorhob oder nicht.

Die Angaben meines Vaters waren zwar vage und lagen weit zurück, reichten aber allemal aus, in bestimmte Richtungen suchend tätig zu werden. Darüber hinaus verfügte ich mittlerweile über ein gewisses Maß an Kenntnissen, bei welchen Archiven, Sammlungen, Behörden und anderen Einrichtungen ich mich nach Dokumenten erkundigen könne oder wo es Erfahrenere als mich gebe, die mir mit ihrem Wissen behilflich sein könnten. Erneut erwies sich das Internet als mächtiges Instrument, Informationen der verschiedensten Art in kürzester Zeit zusammenzutragen und sich mit anderen brieflich auszutauschen.

Die Auskünfte, die ich nunmehr auf Grund meiner Anfragen erhielt, ergänzten meine früheren Erinnerungen beträchtlich, berichtigten sie mitunter aber auch, so dass das Vorstehende gelegentlich nicht allzu wörtlich genommen werden darf und mit dem später Erfahrenen und Berichteten auf jeden Fall zu vergleichen wäre. Ob dies dann freilich Endgültigkeit besitzt, sei dahingestellt. Um mich aber nicht zu immer neuen Korrekturen, Überarbeitungen und Aktualisierungen gezwungen zu sehen, halte ich es für besser, das eben erst Entdeckte, das den Rahmen des vorausgehenden Kapitels ohnedies gesprengt hätte, in einem eigenen Abschnitt zu versammeln und so wiederzugeben, wie es mir selbst bekannt wurde. Ein solches Vorgehen scheint mir umso eher entschuldbar, als es den Leser nicht allein an der Vergangenheit, sondern auch an den Umständen der Suche direkt teilhaben lässt.

Dabei ist dies weniger der Versuch, ein Kapitel meiner Familiengeschichte zu rekonstruieren, als die Erfassung des überhaupt Geschehenen, die Aufzeichnung der vorhandenen Spuren und die Dokumentation der greifbaren Fakten. Und wenn all dieses mit mir selbst, trotz der unleugbar vorhandenen Blutsverwandtschaft mit Peter Henck, nur wenig und nur auf sehr verzweigte und mittelbare Weise zu tun hat, so erscheinen mir die angesprochenen Ereignisse doch gleichwohl unablösbar mit meiner eigenen Vergangenheit verbunden. Denn sie betreffen die Menschen, zwischen denen ich aufwuchs, mit denen ich zumindest als Kind Umgang hatte oder die mich durch die Art, wie sie mit mir sprachen und sich mir gegenüber verhielten, beeinflussten und, wenn man so will, erzogen und prägten. Auch ändern sich die Dinge ja nicht mit jeder neuen Generation, sondern vieles an Sitten, Gebräuchen, Haltungen, Werten und selbst Meinungen wird übernommen und vererbt sich, bewusst oder nicht, auf die Jüngeren, die gar nicht den Einfluss der Vergangenheit, der sie unterliegen, spüren können, denn das intellektuelle Rüstzeug hierfür ist in ihnen noch nicht vorhanden oder noch unzureichend entwickelt. Indes leben viele Menschen mehr oder minder glücklich, ohne sich jemals um ihre Vergangenheit und ihre Vorfahren Gedanken gemacht zu haben, und diesen sei ihre Freude am Leben natürlich weder streitig gemacht noch sonst irgend missgönnt. Schließlich ist es Sache eines Jeden, sich um diese Dinge zu kümmern oder nicht.

Wie bei früheren Forschungen bemerkte ich auch jetzt, dass die Themen ihre eigenen Gesetze haben und kaum je vorhersehbar sind. Stets wirft eine erhaltene Antwort die nächste zu stellende Frage auf, und ein Gefundenes führt zum nächsten Gesuchten. Alles hängt in anfangs nicht erkennbarer, oft vielfach verwobener Form zusammen, und alles verknüpft sich zunächst nur durch Namen, Orte und Zeitpunkte. Kaum einmal lässt sich absehen, ob das Forschen, Bedenken und Vermuten, wie alles gewesen sein könnte, zu einem Ergebnis führen und tatsächlich Licht in die Vergangenheit werfen wird, wobei nicht zu vergessen ist, dass auch die sorgfältigste Forschung wohl nur wenig mehr als Umrisse, grobe Umrisse der Geschehnisse wird aufhellen können und die Ereignisse sich bestenfalls wie die Handlung in einem stummen Schattenspiel abbilden lassen. Werden dabei die wesentlichen Züge der Ereignisse und ein widerspruchsfreier Verlauf erkennbar, ist dies schon mehr, als man erhoffen durfte.

Auf John Cages Frage, wie man Geschichte schreibe, antwortete der Historiker Arragon, man müsse sie „erfinden“. Dies kann ich nur bestätigen. Zumindest wird bei einem erfindenden Vorgehen keine vermeintliche Objektivität in der Darstellung beansprucht, sondern im Gegenteil die Subjektivität und persönliche Anteilnahme des Darstellenden nachdrücklich betont, ja ins Zentrum gerückt. Gleichwohl scheint mir Cages Frage nicht erschöpfend mit diesem Aperçu und dieser kleinen Übertreibung beantwortet, denn es gibt wohl in fast jeder geschichtlichen Forschung so etwas wie einen harten Kern, der keiner erkennbaren Subjektivität mehr unterliegt, wie zum Beispiel die Existenz einer Person auf Erden, das Feststehen von Datierungen oder die Gewissheit über geographische Gegebenheiten. Wollte man diese Ebene mit einbeziehen in die historischen Überlegungen, wäre ein Relativismus die Folge, der kaum jemandem mehr nützt. Ein aufmerksamer, mitdenkender Leser spürt aber, glaube ich, in den meisten Fällen ganz von alleine, wo ein Historiker steht und welches Weltbild er vertritt, ob er nur Ereignisse sammelt oder sie auch verantwortlich deutet und damit schließlich auch sich selbst als interpretierenden Menschen denkend und fühlend einbringt in das Beschriebene.

 

 

Zweites Kapitel
Erste Ergebnisse

Meine erste Anfrage richtete ich an das Bundesarchiv in Berlin, mit dem ich früher schon häufiger Kontakt hatte und von dem ich wusste, dass sich einige Abteilungen speziell mit der Frage der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus befassen. Rasch erhielt ich den Bescheid, dass man dort keine Dokumente über Peter Henck, zumindest keine Patientenakte verwahre. Es habe in den Jahren 1940/41 insgesamt etwa siebzigtausend „Euthanasie“-Opfer gegeben, und man habe die Akten von etwa dreißigtausend Personen archiviert; der Rest der Akten sei verschollen.

Eine Anfrage beim Stadtarchiv in Kassel nach alten Meldeunterlagen meiner Verwandten, die einst dort ansässig gewesen waren, brachte indessen bereits eine Klarheit in das Geschehen, mit der ich in dieser Schnelligkeit kaum hatte rechnen dürfen. Trotz der schweren Zerstörung der Stadt im Oktober 1943 und der Vernichtung zahlloser Dokumente besaß man dort noch die Meldeunterlagen von fast allen Hencks, darüber hinaus aber auch eine einfache, von einem Mitarbeiter des Archivs angefertigte genealogische Tafel aus den siebziger Jahren, welche die Nachkommen Philipp Scheidemanns verzeichnete und in der ich Peter Henck auf den ersten Blick hin fand.

Peter Henck war demnach das zweite Kind aus der Verbindung von Fritz Henck mit Hedwig Scheidemann und war am 19. Mai 1915 in Berlin geboren. Als Sterbedatum war angegeben: „5.11.1941 KZ Oranienburg“. Dies war das erste Mal, dass ich schwarz auf weiß las, was mir mein Vater so viele Jahre zuvor erzählt hatte. Vielleicht war ihm unbekannt geblieben, aus welcher Ehe von Fritz Henck dieser Sohn hervorgegangen war, wenn es mir auch unwahrscheinlich vorkommt. Peter Henck war somit jedenfalls das einzige männliche Enkelkind und damit der einzige direkte männliche Nachkomme Philipp Scheidemanns, zugleich aber auch der Bruder der am 5. November 1912 ebenfalls in Berlin-Friedenau geborenen Johanna Emma Henck, der ich unter den Vornamen Hanna und Anna in der Scheidemann-Literatur bereits begegnet war. Diese einzige Schwester von Peter Henck, der man die Vornamen beider Großmütter, also der Ehefrauen von Philipp Scheidemann und Rektor Wilhelm Henck, gegeben hatte, heiratete O. P., dessen Sohn H. P. erst nach dem Tod seiner Eltern die im Exil entstandenen Schriften seines Urgroßvaters Philipp Scheidemann freigeben konnte. (Leider sehe ich mich durch hier nicht zu diskutierende Überlegungen gezwungen, die Namen O. P. und H. P. nur in anonymisierter Form wiedergeben zu können.) So erschienen diese Aufzeichnungen über siebzig Jahre nach dem Tode ihres Verfassers erst 2002 im Lüneburger Klampen-Verlag und waren herausgegeben von Frank R. Reitzle. Ihr Titel lautet: Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil. In diesem Buch ist auch ein Photo abgedruckt, das Scheidemann zusammen mit seiner Enkeltochter Johanna zeigt und das, laut der Bildunterschrift, etwa 1937/38 in Kopenhagen aufgenommen wurde. Wenige Seiten später findet sich auch die faksimilierte Abschrift jenes Gestapo-Erlasses, mit welchem man im Jahre 1933 Hedwig Henck die Beschlagnahmung der bei ihr und ihrem Schwiegersohn O. P. aufbewahrten Aufzeichnungen und Druckschriften Philipp Scheidemanns anzeigte.

Weitere Anfragen schickte ich in der Folge an einen Verein, der sich mit den NS-Opfern der „Euthanasie“ und Zwangssterilisation befasste, an das Stadtarchiv von Schwalmstadt-Treysa und vor allem auch an die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Sachsenhausen ist ein Stadtteil im Nordosten von Oranienburg (bei Berlin), in dem 1933 eines der ersten Konzentrationslager eingerichtet worden war. Dieses erste Lager wurde zwar wenig später wieder aufgelöst, doch 1936/37 entstand in einer neuartigen architektonischen Konzeption ein zweites, „modellhaftes“ KZ auf dreieckigem Grundriss mit 51 fächerförmig um den zentralen Appellplatz verteilten Baracken. In Sachsenhausen fanden bis zum Ende des zweiten Weltkrieges schätzungsweise bis zu einhunderttausend Menschen den Tod.

*

Wenn mich auch sonst niemand fragt, so frage ich mich doch wenigstens selbst, warum ich versuche, diesem längst Vergangenen, völlig Unabänderlichen und niemals Wiedergutzumachenden nachzuspüren. Warum stecke ich Zeit, Geld und Energie in diese Forschung, welcher Ehrgeiz treibt mich, die städtischen Archivare zu bitten, Meldekarten von einst herauszusuchen und mir ihren Inhalt mitzuteilen, Standesämter anzuschreiben, um alte Angaben in ihren Geburts-, Heirats- und Sterbebüchern nachzuschlagen, Nachlassgerichte zu bemühen, um meine Briefe an Erben weiterzuleiten? Ich habe noch keine schlüssige Antwort gefunden, die mein Tun und Vorgehen jedermann erklärlich machen würde. Natürlich könnte ich etwas von der Aufarbeitung der Geschichte, der Bewusstwerdung des Unbewussten und Verdrängten, der Bürde und Verantwortung des Nachgeborenen und anderes mehr vorbringen. Selbst Goethes „Faust“ ließe sich zitieren mit seinem berühmten Satz, man müsse das Ererbte erwerben, um es zu besitzen, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob er wirklich auch das Belastende, Drückende meinte. Die Sorgen und Ängste, Nöte und Schulden, die sich nicht minder als Hab und Gut vererben, wird er ja wohl kaum gemeint haben. Doch das sind alles allzu oft benutzte Worte und gängige Vorstellungen, die nicht genügen können. Sie mögen aufs Ganze gesehen zwar richtig sein, einmal mehr und einmal weniger, wären aber gleichermaßen auch Ausreden oder Ausflüchte und höben den Einzelfall, der im Grunde ja immer zu bedenken ist, noch nicht aus seiner Austauschbarkeit heraus.

Vorerst ist es im Kern ein dunkler Drang nach Licht und Klarheit, nach Freiheit von fremdem Einfluss, Vertuschung, Beschönigung oder Aufbauschung und fremder Meinung, ein Drang, den ich nicht weiter zurückführen kann, der aber etwas von dem enthält, was ich in erster Linie mir selbst und in gewisser Weise der Zukunft schuldig zu sein glaube. Familienforschung habe etwas mit Wahrheit zu tun, zitierte man mir einmal Nietzsche, als ich darauf aufmerksam machte, dass die Handlungen meiner Verwandten vielleicht nicht immer so ehrenhaft gewesen seien, wie ich es mir gewünscht hätte. Doch ich möchte etwas zurückhaben von meiner Unabhängigkeit und Unbefangenheit, mir meine eigene Meinung, mein eigenes Bild machen dürfen, nicht nur wiederholen, nachplappern, wiederkäuen, was andere mir oft vielleicht nur aus Faulheit und Feigheit vorgebetet, vorgeplappert und vorgekaut haben, um sich selbst wichtig zu machen. Damit komme ich der Sache vielleicht schon näher, denn meine eigene innere Freiheit hängt mit davon ab und mit ihr ein Teil meines Wohlbefindens auf dieser Erde, ein Teil meines Zurechtkommens mit ihren Bewohnern und meinen Mitmenschen, ein Teil meiner Geduld wie ein Teil meiner Ungeduld. Ich werde über mein Tun weiterhin nachdenken und vielleicht noch im Laufe dieser Aufzeichnungen zu einer plausibleren Erklärung gelangen, vielleicht auch nicht.

Einstweilen muss ich erkennen, dass Fritz Henck in meiner Familie doch eine Ausnahme war. Er hatte schon in frühesten Kinderjahren meine Zuneigung zu wecken vermocht, und was kümmert es ein Kind, wenn jemand, den es mag, gerne ein Glas über den Durst trinkt? Es wusste ja nichts von den Gründen und Hintergründen, warum sich hier einer vielleicht etwas zu regelmäßig die Welt schönsäuft. Er verstand Spaß, scherzte, lachte und spielte mit uns Kindern, anders habe ich ihn nicht in Erinnerung. Alles andere, das ich über ihn weiß, stammt aus Erzählungen, kommt aus zweiter Hand. Die andern betrachteten ihn freilich, ob zu Recht oder nicht, nicht mit derselben Zuneigung und Achtung, mit demselben Wohlwollen und Gefallen wie ich, und manches Negative nahm ich im Laufe der Zeit in mir auf, ohne nachfragen zu wollen oder zu können. Doch bereits bei der Niederschrift des vorangehenden Teils über Wilhelm Henck und seine beiden Söhne spürte ich, dass ich keinem von ihnen allen je gerecht zu werden vermag. Das meiste von meinen Aufzeichnungen ist eine Mischung aus Kolportage, Erinnerungen und Lektüre sowie der Versuch, mir meinen eigenen Reim auf dies alles zu machen. Fehlen die Fakten durch Dokumente, muss ich spekulieren, sicherlich oft unter falschen Voraussetzungen und an dem Geschehenen vorbei. Aber besonders im Falle von Fritz Henck, dem bunten Hund der Familie, ergriff mich in zunehmendem Maße das Bedürfnis, ihm mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als man sie ihm zeitlebens hatte angedeihen lassen. So entwickelte ich den Wunsch, nicht nur seine Mängel und Schwächen schärfer zu sehen, sondern auch seine Stärken besser kennenzulernen und beides in Verbindung mit seinem Schicksal zu sehen. Was weiß man schon von der seelischen Belastung eines Vaters, der erlebt, dass sein leiblicher Sohn, sechsundzwanzig Jahre alt, nach mehrfachen Gefängnisaufenthalten wegen Bettelei in einem KZ zugrunde geht? Was wusste ich schon davon? Nichts, gar nichts. Und es kümmerte mich auch nicht. Warum sollte es?!

 

 

Drittes Kapitel
Das erste Telefonat mit H. P.

Am Sonntag, dem 16. Mai 2004 rief mich gegen Mittag H. P. aus einem kleinen Ort in Süddeutschland, nahe der Schweizer Grenze, an, und wir unterhielten uns über zwei Stunden. Wenn auch immer wieder andere Ereignisse zur Sprache kamen, so stand doch das Leben von Peter Henck im Vordergrund.

Auf die mir zuvor unbekannten Namen von O. P. und H. P. war ich in jener genealogischen Übersicht gestoßen, die aus dem Kasseler Stadtarchiv stammte. Mit Hilfe einer Suchmaschine fand ich im Internet einen H. P. auf einer Webseite, welche sich den Unternehmungen eines Vereins widmete; hier gab es als Schatzmeister einen H. P., dessen Alter mit dem des von mir Gesuchten etwa übereinstimmen konnte. Da eine E-Mail-Adresse angegeben war, schrieb ich ihm einen Brief mit der Frage, ob es sich bei ihm vielleicht um den Urenkel Philipp Scheidemanns handele, und bat, falls es sich nur um eine Namensgleichheit und Verwechslung handele, um Entschuldigung und eine kurze Nachricht.

Doch ich hatte Glück, und es handelte sich bei dem Anrufer tatsächlich um jenen H. P., den ich suchte. Das sich ergebende Gespräch war im Hinblick auf die Familienverhältnisse außerordentlich aufschlussreich. Um die Verbindung zu den P.s zu verstehen, muss jedoch zuvor noch gesagt werden, dass Johanna Emma Henck, die Schwester Peter Hencks, O. P. heiratete, und dass H. P. der Sohn aus dieser Ehe war. Bei O. P. scheint es sich allerdings um eine sehr schwierige Persönlichkeit gehandelt zu haben, die das Andenken an den Teil der Familie mit Namen Henck nicht duldete, da Hedwig, die Mutter seiner Frau Johanna, ja von Fritz Henck geschieden worden war, was Schande über seine Familie gebracht hatte. O. P. war im Ersten Weltkrieg dreimal verwundet worden, und diese traumatischen Erfahrungen und körperlichen Verletzungen wirkten möglicherweise in seinem gesamten Verhalten nach.

Die Ereignisse, die mit Peter Henck zu tun hatten, waren H. P. in weit größerem Umfang als mir bekannt, und er wusste von Einzelheiten, die ich auch nach noch so langen Recherchen wohl kaum je erfahren hätte. H. P. hatte aber zumindest durch seine Mutter einiges über seinen Onkel Peter Henck gehört, und wenn er auch einige Male zögerte, mir Details in einem Telefonat zu berichten, so konnte ich mir am Ende des Gesprächs doch ein klareres Bild machen als je zuvor.

Bei Peter Henck scheint es sich jedenfalls nicht, wie ich auf Grund der Beschreibung meines Vaters annehmen musste, um einen Entwicklungs- oder leicht Geistesgestörten gehandelt zu haben, sondern eher um einen etwas exzentrischen jungen Mann, der sich gern auffällig kleidete, sein Haar in unüblicher Weise trug und insgesamt durch eine gewisse unorthodoxe Lebensweise auffiel. H. P. zieht als Vergleich die jungen Leute von heute heran, die sich tätowieren, Ringe und ein Wollmützchen tragen und mit diesen im Grunde harmlosen Besonderheiten auf sich aufmerksam machen möchten. Als Enkel von Phlipp Scheidemann sei Peter Henck gewissermaßen der Rache der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen, welche die gesamte Familie des sozialdemokratischen Politikers hätten ausrotten wollen. Die Urne mit der Asche des Toten wurde der Familie zugestellt, und da die Scheidemanns auf dem angesehenen Stahnsdorfer Südwestfriedhof, auf dem zahlreiche Berühmtheiten liegen, ein Familiengrab besaßen, wurde die Urne zunächst in diesem Familiengrab beigesetzt. (Ob das gleich 1941 war, ist mir nicht klar geworden, ist aber unwahrscheinlich.) Jedenfalls besuchte später, nach dem Krieg, Johanna P. einmal das Grab, nachdem sie eine Einreisegenehmigung in die DDR, auf deren Gebiet der Friedhof damals lag, erwirkt hatte. Sie war freilich über den Zustand des Grabes sehr erstaunt, denn es war außerordentlich gut gepflegt, und es gab einen Gedenkstein mit der (orthographisch falschen) Aufschrift „Peter Henk“. Als sie sich erkundigte, wer für das Grab aufkomme, erfuhr sie, dass Peter Henck inzwischen zu einer Art von „Volksheld der DDR-Regierung“ aufgestiegen war, da es sich bei ihm nachweislich um ein Opfer des Nationalsozialismus gehandelt habe.

Jahre später, als man sich erneut nach dem Grab erkundigte, war zu erfahren, dass man die Urne von Peter Henck inzwischen auf einem Soldatenehrenfriedhof beigesetzt habe. Dass dies ohne Wissen und Einwilligung der Familie geschah, erbitterte H. P., der eine Beisetzung auf einem Friedhof dieser Art nicht nur als verfehlt betrachtete, sondern in der Umbettung der Urne auch eine Störung der Totenruhe und damit ein strafrechtlich verfolgbares Delikt sah.

Das Schicksal Peter Hencks berührte H. P. durchaus, und er brachte dem Ermordeten offensichtlich Sympathie entgegen. Alles, was er von seinen Eltern zu diesem Thema erfahren hatte, bezeichnete er als tendenziös und durch die Brille seines Vaters gesehen. Als H. P. nach dem Tod seiner Eltern einmal etwas suchte, stieß er durch Zufall in einem Schrank hinter einer Reihe von Büchern auf ein in Packpapier eingeschlagenes Paket, das vielfach verschnürt war und die Aufschrift „Peter Henck“ trug. Dieses Paket enthielt vier Leitz-Ordner mit Dingen, die Peter Henck betrafen. Und wenn er auch nicht alles gelesen oder durchgesehen hatte, versprach er mir doch, sich die Ordner in Zukunft einmal vorzunehmen und ihren Inhalt genauer zu untersuchen.

In den letzten Monaten von Berlin, also kurz vor Kriegsende 1945, habe sich ein Verwandter schon einmal brieflich an seine Mutter (Johanna) gewandt, um etwas über Peter Henck zu erfahren. Es sei ein Arzt gewesen oder jemand, der gerade Arzt wurde, und später sei er Gefängnisarzt geworden und habe mit der Bader-Meinhof-Gruppe zu tun gehabt. Er habe einen schnellen Ford Capri gefahren und sei jedes Wochenende unmittelbar nach Dienstschluss zum Fischen gefahren. Nun ja, wenn das Letztgenannte auch etwas zugespitzt war, handelte es sich bei der Beschreibung fraglos um meinen eigenen Vater, und ich kann mir nur vorstellen, dass dieser damals auf Fritz’ Betreiben etwas in Erfahrung zu bringen suchte, das man Fritz selbst möglicherweise vorenthalten hätte.

Am 17. Mai schrieb ich an die Friedhofsverwaltung in Stahnsdorf sowie an die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, wo man für den Bereich Friedhöfe und Grabstätten eine eigene Dienststelle unter dem Titel „Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ mit zwei Referentinnen unterhielt. Beide Einrichtungen bat ich um genauere Auskünfte, was es mit der Urne von Peter Henck auf sich habe und ob es das Familiengrab Scheidemann noch gebe.

Heute, am 18. Mai, erhalte ich nach über zweimonatiger Wartezeit durch die Zevener Fernleihe eine vollständige Photokopie des Sprech- und Singspiels „Deutsche Jugend marschiert“ von F. W., also Friedrich Wilhelm Henck. Meine Erinnerung hat mich nicht getäuscht, und auf dem Titelblatt ist eine aufgehende Sonne abgebildet, in der sich ein gleichermaßen am Horizont auftauchendes Hakenkreuz befindet. Ich werde auf dieses Stück zurückkommen, wenn ich es gelesen habe. Es wird einige Tage dauern, es sind immerhin vierzig Seiten, und ich werde es mit dem Druck „Zum Licht“ von 1927 vergleichen. (Siehe zur 1. Auflage von 1927 hier.)

Bereits heute erreichte mich aus der Berliner Senatsverwaltung, wo man sich mit meiner Anfrage befasst hatte und mir in einer E-Mail ausführlich Auskunft gab, eine Antwort. Das von H. P. Erfahrene bestätigte sich in wesentlichen Punkten, für anderes ließen sich keine Belege finden. Am nächsten Morgen bedankte ich mich und stellte einige zusätzliche Fragen.

 

 

Viertes Kapitel
Unterstützung aus dem Landesarchiv Berlin

Ein ganzes Stück weiter kam ich heute, an Peter Hencks 89. Geburtstag, am 19. Mai 2004, nachdem ich Andreas Mahal im Berliner Landesarchiv geschrieben und ihm den Fall geschildert hatte. Ich hatte dies schon länger beabsichtigt, wollte aber erst verschiedene Schritte unternommen und anderweitig Erkundigungen eingezogen haben, bevor ich seine bewährte Hilfsbereitschaft in Anspruch nahm. Zunächst riet er mir, mich an die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn zu wenden, wo man den Nachlass Scheidemanns verwahrte, im Bundesarchiv in dem zentralen Parteiarchiv der SED und schließlich im Kopenhagener Reichsarchiv nachzufragen, wo sich überall Dokumente im Zusammenhang mit Fritz und Peter Henck befinden könnten. Nachdem Mahal später nochmals mit der Gedenkstätte in Sachsenhausen telefoniert hatte, konnte er mir bereits die folgenden Informationen über Peter Henck geben, die man dort inzwischen für ihn herausgesucht hatte (die Originale durften nicht kopiert werden).

Peter Henck, Vater: Friedrich Henck, wohnhaft in Hamburg; Mutter: Hedwig Henck, geb. Scheidemann; nicht verheiratet. Todesursache: Herzschwäche, infolge einer Ruhr-Erkrankung. Die Zugangsmeldung stammte vom 3. Juni 1941, Peter Hencks Nummer als Häftling war 37880. Sein Tod wurde im Sterberegister auf Blatt 60 verzeichnet. Eingeliefert wurde er als „Arbeitsscheuer“. Er starb am 5. November 1941 um 7.30 Uhr; seine Einlieferung in die Krankenabteilung hatte am 18. Oktober 1941 stattgefunden. Beruf: Arbeiter. Konfession: evangelisch. Einlieferungsadresse: Festung Dömitz, Bereitschaftslager 10. Worum es sich bei dem letztgenannten Lager handelte, war vorerst nicht festzustellen. Mahal telefonierte zwar mit der Wehrmachtsauskunftsstelle, doch konnte man dort keine Informationen finden.

Vom Generalregister der hamburgischen Standesämter erreichte mich postalisch die Auskunft, dass weder Friedrich Henck noch seine Tochter Liane in Hamburg verstorben seien. Man empfahl, mich an das Kasseler Standesamt zu wenden, an das vielleicht eine Nachricht vom Tode Fritz Hencks ergangen sei, und kündigte mir für diese Nachforschungen eine Rechnung in Höhe von 35 Euro an, ein Betrag, der alles zuvor für solche Fragen Aufgewendete weit in den Schatten stellt. Leider sind die Hamburger Meldeunterlagen aus der Zeit vor 1945 im Krieg verloren gegangen, und so gibt es wenig Hoffnung, Friedrich Hencks Hamburger Jahre genauer zu rekonstruieren.

Im Stadtarchiv Kassel habe ich nochmals nach den Bemerkungen gefragt, die auf der Meldekarte von Friedrich Hencks Namen stehen, denn es gibt dort vier Einträge mit verschiedenen Aktenzeichen und Abkürzungen, die sich auf eine polizeiliche Suche oder Anzeige beziehen könnten.

Frau Hamm vom „Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten“ ruft mich an, nachdem ich ihr vor einigen Wochen geschrieben hatte, und entschuldigt sich für die Verzögerung. Sie nennt mir die Anstalten in Bernburg und Pirna-Sonnenstein, wohin ärztlich „ausgemusterte“ KZ-Häftlinge zur Tötung verbracht wurden, und nennt mir die Adressen der Projektleiter dieser Gedenkstätten. Da Peter Henck jedoch an Ruhr erkrankt und verstorben sein soll, ist seine Verbringung in eine solche Anstalt außerhalb Sachsenhausens nicht sehr wahrscheinlich. Gleichwohl kann ich vorerst nicht ausschließen, dass es sich (wie in Obrawalde) um eine Scheindiagnose in den Dokumenten handelt, die lediglich dazu diente, die Angehörigen mit einer plausiblen Todesursache zu beschwichtigen und keinen Gedanken an eine systematische Tötung aufkommen zu lassen. Frau Hamm, der ich von diesen Überlegungen berichte, empfiehlt, sich in diesem Punkt an die Experten zu wenden, die vielleicht wissen, ob solche Scheindiagnosen auch in Sachsenhausen vorkamen oder üblich waren.

Aus der Stadtbibliothek Lübeck erhalte ich die kurze Mitteilung, dass beide von mir gesuchten Artikel im „Lübecker Volksboten“ gefunden wurden und Kopien sich auf dem Weg zu mir befänden. Es handelt sich um die Ankündigung und Besprechung von Fritz Hencks „Zum Licht“ im Januar 1927.

*

Donnerstag, 20. Mai 2004, Himmelfahrt. – Heute habe ich mich wegen der Suche nach Fritz Henck nochmals mit einer E-Mail an das Einwohnermeldeamt in Wedel bei Hamburg gewandt. Der Name Wedel ging mir im Zusammenhang mit Fritz nicht mehr aus dem Kopf, und nachdem ich auf einer Landkarte gesehen hatte, dass Wedel gar nicht mehr zum Stadtgebiet von Hamburg gehört, sondern in Schleswig-Holstein liegt, hielt ich es für richtig, das Amt auf Verdacht hin anzuschreiben, diesmal mit der Bitte um vorherige Mitteilung etwa anfallender Kosten versehen.

Bei dem Generalregister der hamburgischen Standesämter beschwerte ich mich höflich über die Höhe der Kosten, verwies aber auch darauf, dass man unter anderem nach etwas gesucht habe (die Geburtsbeurkundung von Liane Schramm, geb. Henck), wonach ich im Grunde gar nicht gefragt hatte. Ich bat, Suchende besser im voraus über anfallende Kosten aufzuklären und zudem auf weitere Suchmöglichkeiten bei den Einwohnermeldeämtern aufmerksam zu machen. Ich rechne mit einer rechtfertigenden Antwort unter Berufung auf die geltenden Bestimmungen und Gebührenordnungen, die gar keine andere Behandlung erlauben; man habe sich trotz des erheblichen Aufwandes sogar an der unteren Grenze der Gebühren bewegt. Wir werden sehen.

Ich belas mich heute auf verschiedenen Webseiten und in der „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“, was es mit dem Begriff des „Arbeitsscheuen“ auf sich habe. Dabei erfuhr ich, dass es 1938 eine sogenannte Aktion „Arbeitsscheu Reich“ gegeben habe, bei welcher ein jeder als „asozial“ eingestuft wurde, der „durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will“, Menschen, die „durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen, sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen“. Über zehntausend Personen wurden damals verhaftet, etwa sechstausend kamen nach Sachsenhausen und wurden erst mit einem braunen, später einem schwarzen Winkel an ihrer Kleidung gekennzeichnet.

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Freitag, 21. Mai 2004. – Die erwartete Antwort des Generalregisters der hamburgischen Standesämter traf ein: „Mit der Festsetzung der Suchgebühren bewegen wir uns ,an der unteren Kante’, wie Sie aus der Rechtsgrundlage ersehen können.“, heißt es darin. Man hatte jedoch auch schon beim Einwohnermeldeamt nachgefragt, was mir zuvor freilich nicht mitgeteilt worden war. Ich bedanke mich kurz für die Antwort.

Telefonat mit Andreas Mahal, der sich im Mecklenburgischen Hauptstaatsarchiv nach den Meldeunterlagen von Dömitz erkundigt hat. Doch weiß weder dort noch bei dem Dömitzer Heimatverein jemand etwas über den Verbleib dieser Dokumente. Auch mit dem Kirchenbuchamt in Schwerin hat Mahal telefoniert, und man hat ihm nach erfolgter Suche Rückruf am kommenden Wochenbeginn zugesagt.

Vom Einwohnermeldeamt in Schwalmstadt trifft eine E-Mail an. Dort ist eine Mitarbeiterin in den inzwischen verfilmten Meldeunterlagen fündig geworden, sowohl hinsichtlich meiner unmittelbaren Familie als auch hinsichtlich Fritz Henck. Alles ist von dem Film in die E-Mail an mich übertragen worden, doch gibt es einige kleine Fehler, deren Herkunft ich nicht immer erkennen kann. Meine Mutter heißt hier Maria Elisabeth Franziska Henck, geb. Christel, doch ihr eigentlicher Rufname Irmgard taucht überhaupt nicht auf. Die gesamte Familie wurde am 27. Juni 1955 nach Sinsheim (Elsenz), Kreispflegeanstalt, abgemeldet.

Interessanter sind die Angaben über Friedrich Henck. Er war mit Agnes Martha Lucie Henck, geb. Mutz (geb. am 15.7.1903 in Hamburg-Harburg) verheiratet, die Ehe wurde am 5.9.1931 in Berlin-Mahlsdorf geschlossen. Nach dem Tod von Lucie am 26.6.1962 in Treysa (Reg. Nr. 70/1962, Standesamt Treysa) meldete sich Fritz am 30.5.1963 ab nach „Wi...?“ im Kreis Pinneberg. Die genaue Ortsbezeichnung sei leider nicht mehr lesbar, als Straßenname ist „Königsberger Str. 133“ angegeben. Eine Tochter mit Namen Liane (inzwischen verheiratete Schramm; keine weiteren Daten vorhanden) habe zum Zeitpunkt des Sterbeeintrags von Lucie Henck in Alperbrück, Bez. Köln, Bomigerstr. 8 gewohnt.

Da ich sofort vermute, dass es sich bei dem unleserlichen Städtenamen „Wi...“ um Wedel im Kreis Pinneberg handeln könne, suche ich im Internet und finde, dass es dort heute eine „Königsbergstraße“ gibt; ferner finde ich eine Hausnummer 144, so dass es auch mit der hohen Nummer 133 seine Richtigkeit haben mag. Vielleicht hat mich meine Erinnerung doch nicht getäuscht, und Wedel ist der gesuchte Ort. (Nachträglich erinnere ich mich an die hamburgische Aussprache von Lucie, die sich sehr deutlich von unserem hessischen Tonfall unterschied; ihr „s-pitzer S-tein“ und ihr „Frühs-tück“ waren zeitweilig geflügelte Worte bei uns.) Alperbrück, wo Liane gewohnt haben soll, ist heute ein Ortsteil von Wiehl in der Nähe von Köln (in den siebziger Jahren gab ich hier einmal ein Konzert mit Klaviermusik von Boulez, Strawinsky und Stockhausen), und eine Bomiger Straße ließ sich dort auf einem Internet-Stadtplan finden. Ich schicke nochmals eine E-Mail nach Wedel und ergänze meine Angaben, um die Suche zu erleichtern.

 

 

Fünftes Kapitel
Das zweite Telefonat mit H P.

Samstag, den 22. Mai 2004. – In einer Internet-Datenbank finde ich die Angabe, dass sich alle 41 erhaltenen Nummern der Zeitung „Volkswehr. Zeitung für die Soldaten der deutschen Republik“, die von Fritz Henck 1919 mitherausgegeben wurde, in der Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität befinden. Ob es mehr als diese 41 Ausgaben gab, scheint nicht bekannt zu sein. Ich schreibe eine E-Mail und frage, ob die Zeitung für die Fernleihe freigegeben ist (womit nicht zu rechnen ist) oder auch verfilmt vorliegt. Mich interessiert doch, was hier gedruckt wurde, nachdem ich im Vorwort des Buches „Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht“ (1989) las, dass Fritz Henck in einem „Mitteilungsblatt“ (damit könnte die „Volkswehr“ gemeint sein) kurz vor der Ermordung der Kommunistenführer diesen unverhohlen gedroht habe und dass der wenig später erfolgte Mord von dieser Propaganda des sozialdemokratischen Lagers beeinflusst und gutgeheißen, ja unmissverständlich erwünscht gewesen sei.

In der Mittagszeit telefoniere ich ausführlich (ca. eineinhalb Stunden) mit H. P., der eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Er hatte gestern versucht, ein Fax zu schicken, doch kam es nicht an, und er hat noch zu wenig Übung im Versenden von Bilddateien per E-Mail. So rief ich zurück, und wir unterhielten uns wieder über Peter Henck, über den er inzwischen zahlreiche Unterlagen herausgesucht hat und mir in der kommenden Wochen photokopiert schicken will. Er zitierte aus dem letzten Brief, den Peter Henck aus dem KZ an seine Mutter geschrieben hatte. Es heißt darin, er fühle sich „den Umständen entsprechend“ wohl. Ich vermute aber, dass solche Briefe, ähnlich denen in Gefängnissen, genau zensiert wurden und ein Brief mit negativem oder auch nur leise kritischem Inhalt kaum zugestellt oder ohne Folgen geblieben wäre.

H. P. besitzt noch diverse Arbeitsbücher von Peter Henck: Versicherungskarten, Lehrverträge, Korrespondenz mit seiner Mutter, Straßenbahnkarten, zum Teil mit Bild. Auch andere Photos müsse es noch geben, meint er auf meine Nachfrage, und eines habe seine Mutter über den Leiter der Ravensburger Haftanstalt bei dem Versuch einer Kontaktaufnahme einst auch an meinen Vater geschickt. Auf den Wunsch von O. P. habe Peter Henck versucht, eine militärische Grundausbildung zu machen, doch sei er wieder entlassen worden. Peter soll des öfteren wegen Landstreicherei im Gefängnis eingesessen haben. Im Gefängnis habe er durch einfache Arbeiten auch etwas Geld verdient, das auf ein Sparbuch eingezahlt worden sei. Das Sorgerecht sei erst dem Vater Fritz, dann der Mutter Hedwig und schließlich wieder dem Vater zugesprochen worden, der aus diesem Sparbuch dem Jungen auch Geld habe zukommen lassen. Die Festung Dömitz ist H. P. in diesem Zusammenhang durchaus bekannt; es habe sich hier wohl um eine Art militärischer Ausbildungsstätte gehandelt, die Peter die Möglichkeit bieten sollte, zu einem sozialen Verhalten zurückzufinden. Peter habe sich aber immer wieder außerhalb der Ordnung gestellt.

Fritz Henck, von dem H. P. offenbar auch den Druck „Zum Licht“ besitzt (er konnte ihn augenblicklich aber nicht finden, erkannte ihn indes auf Grund meiner Beschreibung des Titelbilds), soll auch gegen Scheidemann ausgesagt haben und soll, möglicherweise aus beruflichen Gründen, in die NSDAP eingetreten sein. Dies würde übereinstimmen mit meiner ersten Lektüre des Sprechstücks „Deutsche Jugend marschiert“, in dem am Ende SA-Mannschaften auftreten und das „Horst-Wessel-Lied“ gesungen wird, das ansonsten politisch aber eher unbestimmt bleibt. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass die Hitlerjugend unter eben dieser Parole „Deutsche Jugend marschiert“ bereits im März 1933 auftrat, um neue Mitglieder zu werben und einen absoluten Alleinvertretungsanspruch für sämtliche jugendlichen Deutschen anzumelden.

H. P.s Eltern seien mehrfach zu Verhören ins Gestapo-Hauptquartier bestellt worden, doch habe sich sein Vater O. schließlich geweigert, dass seine schwangere Frau verhört werde, und habe sich mit seinem forschen Auftreten auch durchgesetzt (dies müsste etwa 1936 gewesen sein, da H. P.s Schwester im September 1936 geboren wurde). Über Peter Hencks Beerdigung (Beisetzung der Urne) auf dem Stahnsdorfer Friedhof gebe es noch eine Rechnung. In dem Familiengrab der Scheidemanns hätten auf jeden Fall schon Johanna Scheidemann, also die Ehefrau des Politikers, sowie die Tochter Lina und der Schwiegersohn Ernst (Katz) bestattet sein müssen, die sich [ca. am 6./7. Mai] 1933 gemeinsam das Leben genommen hatten (siehe oben). Peter Hencks Name sei nicht auf dem übermannshohen Obelisk des Grabs, sondern auf einem eher provisorischen Schildchen gestanden (in falscher Schreibweise, ohne „c“). H. P. nahm an, dass der Obelisk in Kassel von demselben Künstler ausgeführt worden sei wie jener in Stahnsdorf.

Abends schreibe ich noch eine E-Mail an das Einwohnermeldeamt in Wiehl, um zu erfragen, wohin Liane, die Tochter von Fritz, von hier aus verzogen ist.

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Sonntag, 23.5.2004. Ich schreibe nochmals eine Mail an Frau B. im Bundesarchiv, Abteilung Reich, um die Zugehörigkeit zur NSDAP von Friedrich, Wilhelm und Helmut Henck überprüfen zu lassen. Man hat dort einen Teil der NSDAP-Mitglieder-Kartei verwahrt, die zwar nicht vollständig ist, gleichwohl aber eine unersetzliche wichtige Quelle zur Erforschung des Nationalsozialismus darstellt.

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Montag, 24.5.2004. Aus Wedel erhalte ich die (erbetene) Nachricht, dass man pro Person, nach der geforscht werde, eine Gebühr von acht Euro erhebe; hinzu kämen die Portokosten. Ich bitte, sich zunächst auf die Suche nach Friedrich Henck zu beschränken.

Obwohl ich eigentlich beabsichtigte, heute Vormittag mit Frau Marlies Orth im Schwalmstädter Einwohnermeldeamt zu telefonieren, scheint es mir doch besser, ihr zu schreiben. Nach zu vielen Daten und Einzelheiten ist zu fragen, und die Gefahr, dass etwas durcheinander geraten könnte, ist mir zu groß. So frage ich zugleich nach den Brüdern Friedrich und Karl Henck und ob Wilhelm Henck und seine Frau Emma ab 1943 vielleicht in Treysa ansässig wurden (ich vermute noch immer, dass die beiden letzteren hier auch gestorben sind). Bis jetzt waren die Schwalmstädter Auskünfte noch kostenlos, und in Treysa scheint doch vieles zusammenzufließen, da auch Wilhelm Hencks Frau, eine geborene Heyde, von hier stammte. Die Familien beider Großeltern (Henck und Christel) lebten in Treysa, hier verlobten sich und heirateten meine Eltern, und hier wurden meine Schwester und zuletzt ich geboren. Und Fritz wohnte bis 1963 in Treysa, wenn ich auch vorerst nicht weiß, wann er zuzog. Da ich mich aber als kleines Kind an ihn erinnere, könnte er schon in den vierziger Jahren, wenn nicht früher nach Treysa gekommen sein, spätestens Anfang der fünfziger Jahre, als meine Erinnerungen einsetzten.

Ich wende mich schriftlich an die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und frage nach Unterlagen über Fritz und Peter Henck im dortigen Archiv (trotz späterer Wiederholung meiner Anfrage erhalte ich nie eine Antwort). Danach schreibe ich (nach telefonischer Anfrage) an das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden, wo die Entnazifizierungsdokumente und Spruchkammerbescheide für den Bereich Treysa aufbewahrt werden. Da mir Fritz’ Name im Zusammenhang mit Schwierigkeiten vor der Spruchkammer in dunkler Erinnerung ist, möchte ich diesen Schritt nicht auslassen, habe zugleich aber auch nach Unterlagen über Rektor Wilhelm Henck und meinen Vater gefragt.

An H. P. sende ich eine erste genealogische Zusammenstellung, welche die Verwandtschaftsverhältnisse, ausgehend von Wilhelm Henck und seinen beiden Söhnen, klärt, damit er meinen Vater und mich besser einordnen kann. Er hatte in unserem letzten Telefonat auf meine Nachfrage hin die Umstände von Peter Hencks Tod präzisiert: Von einer Ruhr-Infektion als Todesursache schien er bereits etwas zu wissen, doch hielt er diese Diagnose für fingiert. Er hatte aber keine konkreten Kenntnisse darüber, dass Peter Henck beispielsweise für eine Erprobung der Gaswagen, die seinerzeit erstmals zum Einsatz kamen, sein Leben lassen musste.

Auf Rat Andreas Mahals schreibe ich nochmals an das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde, wo in der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“ (SAPMO) zahlreiche Dokumente aus der DDR aufbewahrt werden.

Abends trifft noch eine E-Mail vom Einwohnermeldeamt in Wiehl ein, an das ich wegen Fritz’ Tochter Liane geschrieben hatte. Man teilt mir gebührenfrei mit, dass die Meldekarte der Familie Schramm im Stadtarchiv gefunden worden sei und dass Liane Schramm, geb. Henck am 19.1.1932 in Berlin geboren wurde. Der Zuzug nach Wiehl sei am 9.3.1955 registriert. Der Wegzug mit Tochter Gerlinde sei am 28.5.1963 erfolgt, und zwar nach Wedel in Holstein, Königsberger Straße 133. Weitere Archivauskünfte müsse man mit zehn Euro berechnen, und man wünscht mir viel Erfolg bei den weiteren Nachforschungen.

Das sind allemal Neuigkeiten und interessante Auskünfte (ich bedanke mich postwendend), denn nun erfahre ich nicht nur den Geburtstag und -ort von Liane, sondern höre erstmals auch von einer Tochter Gerlinde. (Hatte ich nur vergessen, dass es in Treysa noch ein ganz kleines Kind gab?) Und der Kreis zu Fritz, Lianes Vater, schließt sich Ende Mai 1963 in Wedel in der Königsberger Straße 133, wo Vater, Tochter und Enkelin dann offenbar gemeinsam wohnten. Hätte ich nur nicht nach Hamburg geschrieben; ich hätte fünfunddreißig Euro sparen können. Doch dass ich immer wieder, wie auch jetzt, kostenlose Auskünfte erhalte, mindert meinen Verdruss, und das Wissen, auf der richtigen Spur zu sein, entschädigt mich zusätzlich.

 

 

Sechstes Kapitel
Chronologie, Der „Lübecker Volksbote“, Detailarbeit

Dienstag, 25.5.2004. Ich stelle eine chronologische Tafel über Fritz zusammen, die verzeichnet, was an Daten greifbar ist – Heiraten, Geburten, Todesfälle, Scheidung, Umzüge, Veröffentlichungen. Die Kasseler Meldeunterlagen erweisen sich als überaus ergiebig zu diesem Zweck. Aus Kostengründen sehe ich davon ab, bei sämtlichen Einwohnermeldeämtern oder Stadtarchiven, die Meldeunterlagen von Fritz haben könnten, anzufragen, und so klammere ich Halle an der Saale, Essen, Hemeringen bei Hameln und Herne vorerst aus.

Um mit Rektor Henck weiterzukommen, müsste ich in Trier und Gelsenkirchen, wegen meines Vaters in Schulpforte anfragen, um bessere Vorstellungen über die genauen zeitlichen Abläufe zu erhalten. Aber es ist zu viel auf einmal, und ich werde die Arbeiten besser verteilen und mich vorerst auf Peter und Friedrich Henck, die Zusammenhänge mit der Familie Scheidemann und schließlich auf die Vorgänge während der Novemberrevolution und dem Spartakusaufstand beschränken; das reicht einstweilen für meinen kleinen Nebenberuf als Historiker und Ahnenforscher. Ein gutes Dutzend Anfragen ist noch unbeantwortet, und so werde ich das jeweils Eingehende erst einmal aufarbeiten.

Meine Sorgen um die Kosten erhalten neue Nahrung, als aus der Lübecker Stadtbibliothek die zwei angekündigten Kopien mit den Artikeln aus dem „Lübecker Volksboten“ eintreffen. Man berechnet mir sechs Euro für zwei A3-Kopien und 4,54 Euro als Porto- und Verpackungspauschale, zusammen 10,54 Euro. Es lebe die Geldschneiderei; man hält die Hand auf, wo man kann. Ich werde bald überhaupt keinen Brief mehr schreiben können, ohne zu fragen, ob seine Beantwortung nicht unter irgendeine Gebührenordnung fällt. Bestelle ich dergleichen über die Fernleihe, bekam ich es früher oft kostenlos als Photokopie. Doch die Fernleihe hat ihr eigenes Tempo, und man wartet manchmal bis zum Sankt Nimmerleinstag, ohne zu wissen, ob eine Bestellung noch unterwegs ist und nicht irgendwo verloren ging. In Lübeck war zudem nur eine minimale Suche notwendig, die sich dank meiner genauen Angaben auf zwei Ausgaben der Zeitung beschränken konnte. Die Höhe solcher Ausgaben ist und bleibt ärgerlich, und meine Sparsamkeit hat ihren Grund, denn meine Einnahmen sind in den nächsten Monaten recht kläglich, und ständig sind Rücklagen anzugreifen.

Da ich nun aber die vollständigen Zeitungstexte vergleichen kann mit dem, was auf der vorletzten Seite des Druckes „Zum Licht“ zitiert ist, fällt mir doch auf, dass aus der Besprechung der Aufführung sämtliche Vorbehalte und Einschränkungen recht sorgfältig ausgeklammert sind und nur das Lobende übrig bleibt. Wie man das eben so macht in der Werbung, selbst in der Werbung für ein Stück, das bessere Zeiten anbrechen sieht und den Kapitalismus zu Grabe tragen möchte. Zwar steht der mit „S.“ abgekürzte Rezensent ganz hinter der Aufführung und der Initiative als solcher, wendet aber auch ein: „Und auch die Chorwerke selbst, vor allem das große neue ,Zum Licht‘, sind noch so schwer, so beladen, überladen mit Gedanken, so mystisch umdunkelt, daß nicht jedes Wort und jede Versreihe unmittelbar in das Verständnis der Hörer einzudringen vermag. Der Weg zur lichten Klarheit einer reifen Kunst ist für den sprachlich hochbegabten Dichter sicher noch weit. Doch wenn der Sinn auch manchesmal dunkel blieb, das Werk sprach unmittelbar von Herz zu Herzen.“ („Lübecker Volksbote“, 17.1.1927, Beilage.) Ich kann dem Rezensenten im Hinblick auf die „Dunkelheit“ nur beipflichten. Aber wer möchte entscheiden, ob das Stück nun trotz oder gerade wegen seiner Dunkelheit „von Herz zu Herzen“ sprach? Seltsamerweise wird der Name des „hochbegabten Dichters“ an keiner Stelle erwähnt, auch nicht in der Ankündigung der Aufführung. Warum denn nicht? Ein Vergessen, ein Zufall? Wohl kaum bei zwei so ausführlichen Artikeln. Also Bedacht; doch warum und wieso? Hatte der Name Fritz Henck einen Beigeschmack, dessen man sich hätte schämen müssen?

Auf der zweiten Photokopie, die gleich der ersten die gesamte Zeitungsseite wiedergibt (Ausgabe vom 15.1.1927, 1. Beilage), ist mir ein kleiner Fund vergönnt, denn „unter dem Strich“ snacken hier „Fiedje un Tedje“, zwei alte Seebären, von denen der letztere Grippe, vielleicht nur eine Erkältung, vielleicht aber auch die näher rückende Influenza hat und ständig husten muss. Am Ende wird hier auf die anstehende „Morgenfier“ (Morgenfeier) im Stadttheater angespielt und so kräftig wie durchsichtig die Werbetrommel gerührt. „Schad nicks, darför gaht wi morg’n an’n Sünndag nah de Morgenfier in’t Stadttheater.“ – „Wat för ’ne Morgenfier?“ – „Na, de doch von’n Kulturkartell, wo Heidmann mit den’n Sprekchor up de Bühne uptritt. ’ne feine Sak, för de ick gern de 75 Penn spendier. Halw elben fang dat an. Hkm! [Husten] Min Fru kümmt ok mit, sowat lött se sick nich nehm’n. (…) Kümmst nich mit? Ick segg di, sowatt ward in Johrstid di nich wedder badn. Hkm!“ – „Is god, ick kam.“

*

Mittwoch, 26.5.2004. Andreas Mahal rief gestern Nachmittag nochmals an, nachdem ich ihm kurz über das von H. P. zu erwartende Material berichtet hatte. Er nimmt noch immer an, dass es sich bei dem „Bereitschaftslager 10“, aus dem Peter Henck ins KZ Sachsenhausen kam, um ein Lager des Reichsarbeitsdienstes gehandelt hat. Dies bestätigt sich in gewisser Weise, als ich heute Morgen im Internet auf eine Webseite „Terror unterm Hakenkreuz – Orte des Erinnerns in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt“ stoße, auf der von einem Bereitschaftslager im Zusammenhang mit einem „Arbeitserziehungslager“ in Liebenau die Rede ist. Diese Bezeichnung würde mit H. P.s Beschreibung übereinstimmen, wenngleich es in Liebenau wohl kaum um eine militärische Grundausbildung, sondern eher um Zwangsarbeit ging. Aber der gescheiterte Versuch, Peter Henck eine einfache militärische Ausbildung zuteil werden zu lassen, könnte seiner Einweisung in ein „Arbeitserziehungslager“ ja unmittelbar vorausgegangen sein. Mahal weist auch darauf hin, dass „Festung Dömitz“ nach Auskunft des Stadtarchivars der offizielle Ortsname ist und dass es sich nicht um ein Gefängnis handelt, wie der Name vermuten lassen könnte.

Ich bestelle über die Fernleihe das Buch „Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867–1933“, da ich darin Informationen über Fritz Henck vermute. Wenn ich nichts missverstanden habe (später erweisen sich die Annahmen in diesem Absatz aber als falsch), war er ja vielleicht auch sozialdemokratischer Abgeordneter, und so könnte im biographischen Teil etwas über ihn zu finden sein. Auch Fritz Hencks 1922 in Berlin erschienene Schrift „Das Erbrecht“ habe ich vor einigen Tagen bestellt. Ich frage mich, wie diese Schrift zustande gekommen ist, denn Fritz hat sicher nicht Rechtswissenschaften studiert, um ein solches Thema sachverständig behandeln zu können. Und ob der Dietz-Verlag, in dem das Buch seinerzeit erschien, noch derselbe Verlag war, der 1978 in der DDR die schwergewichtige und großformatige „Illustrierte Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1918/1919“ veröffentlichte?

Unerwartet kommt mit der Post eine Melderegisterauskunft aus dem Staatsarchiv in Hamburg, an das meine Anfrage von dem Hamburger Zentralregister offenbar weitergeleitet worden war. Man teilt mir mehrere Daten von Friedrich Henck und seiner Frau Lucie mit, die ich bereits kenne, doch einiges ist mir neu. So hatte einerseits Liane auch noch die Vornamen Gretl und Liesl, andererseits fand die Abmeldung aus Hamburg am 30.12.1946 statt, und die Bemerkung hierbei besagt: „lt. Revierbericht nach Kassel verzogen“. Immerhin etwas. Da man aber keine Mitteilung macht über den Zuzug nach Hamburg und ich andererseits die Auskunft bekam, die Meldeunterlagen aus der Zeit vor 1945 seien vernichtet, kann ich anhand meiner jetzigen Dokumente nur sagen, dass Fritz am 30. August 1930 nach Hamburg verzogen sein soll, dass er aber im September 1931 in Berlin heiratete und dass auch in Berlin im Januar 1932 Liane geboren wurde. Dann gibt es eine Lücke bis zum dem jetzt erfahrenen Datum der Abmeldung in Hamburg zum Jahresende 1946. Ich hoffe sehr, dass sich die Meldeunterlagen in Berlin erhalten haben. Gleichwohl fügt sich eins zum anderen, und das Bild gewinnt an Gestalt.

Marlies Orth aus dem Schwalmstädter Meldeamt ruft mich an. Sie hat die vorhandenen Meldeunterlagen nochmals geprüft und zumindest noch die Angaben gefunden, dass Fritz am 10. September 1945 aus Hamburg 33 in Treysa zugezogen war, dass seine Frau Lucie mit Tochter Liane jedoch bereits ein Jahr früher, nämlich am 1. September 1944 in Treysa angemeldet wurden. Den unleserlichen Ortsnamen hat sie nun als „Wedel“ identifiziert. Sie hat sich selbst bei einem alten Herrn Kohl erkundigt, der noch Erinnerungen an meinen Großvater, den Zahnarzt Karl Henck, hatte (ich selbst erinnere mich dunkel an einen Taxifahrer namens Kohl in Treysa, der in der Bahnhofsgaststätte meines Großvaters verkehrte und vermutlich seinen Standplatz, den vermutlich einzigen in Treysa, vor dem Bahnhof hatte; er müsste inzwischen recht alt sein, denn dies liegt etwa fünfzig Jahre zurück). Es gebe fast keine älteren Unterlagen über den Zuzug in Treysa mehr, wo durch Kriegseinwirkung alles vernichtet worden sei, meint Frau Orth. Da ich weiß, dass in Treysa sicherlich keine Bomben gefallen sind, frage ich, ob sie wisse, wie es zu diesem Schaden gekommen sei, und sie erzählt, dass 1945, als die Amerikaner anrückten, von den Treysaer Einwohnern alle Meldeunterlagen auf dem Marktplatz verbrannt worden seien. (Ich frage nicht weiter, aber die Gründe sind mir nicht sofort klar; vielleicht handelte man so aus Angst vor nationalsozialistischer Belastung, aus Furcht vor Verhören oder Repressalien bei Mitgliedschaft in der NSDAP oder wegen irgendeiner Zugehörigkeit zu militärischen Einheiten.) Allenfalls könne es noch Einträge in den Kirchenbüchern geben, die eine recht gute Quelle seien. Sie gibt mir die Adresse des Pfarrers Schindelmann in Treysa. Ich frage, ob denn 1945 auch die Personenstandsbücher im Standesamt vernichtet worden seien; das weiß Frau Orth nicht, sie erkundigt sich aber schnell bei dem Standesbeamten und teilt mir nach kurzem Verharren in der Warteschleife mit, dass die Standesbücher bis ins Jahr 1874 erhalten seien; und vor diesem Zeitpunkt habe es keine Standesämter gegeben. Sie verbindet mich dann weiter an den Standesbeamten namens Dreher, bei dem sie gerade angefragt hatte und dem ich nun meine Suche nach den Urgroßeltern, Rektor Henck und Frau, die bis 1943 in Kassel ansässig waren, kurz vortrage. Er ist sehr freundlich und macht mich auf anfallende Gebühren aufmerksam (7 Euro für eine einfache Suche, in schwierigeren Fällen, je nach Aufwand, auch mehr), bittet mich, ihm die bekannten Daten zu schicken und gibt mir seine E-Mail-Adresse. Ich schreibe ihm umgehend und teile ihm alles Notwendige mit.

Es war sehr eigenartig, plötzlich mit zwei Personen in Treysa zu sprechen und einen hessischen Tonfall wiederzuerkennen, mit dem ich die ersten sieben Jahre meines Lebens aufgewachsen bin. Seit so langer Zeit habe ich keinerlei Verbindung mehr zu diesem Städtchen; fast alle, die ich dort kannte, sind gestorben, und ich mied eine Rückkehr zum Teil auch bewusst. Es ist kein Heimweh, das mich beim Erklingen dieser vertrauten Sprachlaute befällt. Eher wirken sie wie eine Bestätigung, dass alles, an das ich mich erinnere, nicht bloße Einbildung ist und seine realen Wurzeln hat in der Vergangenheit.

In der Auskunftsstelle des Hamburger Staatsarchivs frage ich telefonisch nach, was „Hamburg 33“ in den Jahren 1944/45 genau bedeutet. Der entgegenkommende Herr an der Auskunft will sich informieren und mir eine E-Mail zukommen lassen. Diese trifft eine gute Stunde später bereits ein mit der Nachricht, dass sich hinter der Postleitzahl 33 der Hamburger Stadtteil Steilshoop verberge. Ich bedanke mich umgehend für die Auskunft.

Als ich „Deutsche Jugend marschiert“ in Googles Suchmaschine eingebe, stoße ich auf die „Liste der auszusondernden Literatur“ der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (Zweiter Nachtrag, Berlin 1948). Hier erscheint unter der Nr. 3153: „Henck, Friedrich Wilhelm: Deutsche Jugend marschiert. – Melsungen: Bernecker 1933.“ Ich habe die eigentliche Lektüre des Stückes immer noch aufgeschoben, gestern Abend aber doch ernsthaft damit begonnen. Ich möchte es erst zu Ende lesen, bevor ich Näheres darüber sage.

Auch zu Peter Henck habe ich heute eine chronologische Übersicht angelegt, in die ich neue Daten und Ereignisse sowie die jeweiligen Quellen eintragen kann. Diese Art der Darstellung hat sich bewährt, denn der jetzt aufgezeichnete Bericht, der ja eine Art von Arbeitsjournal wird, entbehrt trotz seines chronologischen Verlaufs der inhaltlichen Systematik und ist allein von den Wendungen und Ergebnissen der Forschung bestimmt. Auch die anfallende Korrespondenz hält den Ablauf der Geschichte, um die es geht, nicht in der wünschenswerten Ordnung fest, sondern unterliegt denselben verwirrenden Zufälligkeiten. Da sich das Material gegenwärtig aber täglich mehrt, bedarf es hier neuer Aufzeichnungsformen, damit ich die Übersicht nicht verliere und Details schnell auffinden kann.

Noch gestern Abend schrieb ich nach Schulpforte, um auch hier bessere zeitliche Anhaltspunkte zu haben.

 

Fortsetzung

 

Erste Eingabe der überarbeiteten Fassung ins Internet:  April 2006
Letzte Änderung:  Samstag,  30. April 2016

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