Treysa  (Teil 2)

 

Treysa, heute Schwalmstadt

Kindheit in einer kurhessischen Kleinstadt

Autobiographische Studien VI

Teil 2

 

von

Herbert Henck

 

 

 

                    Teil 1
                    
                    Kapitel   1      Vom Himmel hoch
                    Kapitel   2      Am Bahnhof
                    Kapitel   3      Am Bahnhof (Forts.)
                    Kapitel   4      Die Kanonenbahn
                    Kapitel   5      Haus und Garten
                    Kapitel   6      Haus und Garten (Forts.)
                    
                    
                    Teil 2
                    
                    Kapitel   7      Die Familie meiner Mutter – Änne Christel
                    Kapitel   8      Karl Christel
                    Kapitel   9      Karl Christel (Forts.)
                    Kapitel  10     Karl Christel (Ende)
                    Kapitel  11     Das Labor
                    Kapitel  12     Onkel Noll
                    Kapitel  13     Die Generalprobe
 

 

 

 

 

Siebentes Kapitel
Die Familie meiner Mutter – Änne Christel

Ãœber die Eltern meiner Mutter, Karl und Änne Christel, die schon mehrfach erwähnt wurden, sei noch einiges berichtet, das mir erinnerlich ist. Für meine Familie waren sie, mehr als die entfernter wohnenden „Schrecksbacher“, immer präsent und bildeten gleichsam einen verwandtschaftlichen Hintergrund erster Ordnung, der durch die ebenfalls in Treysa lebenden Eltern meiner Großmutter Änne und andere Verwandte noch betont wurde. Ich bin weit entfernt davon zu glauben, hiermit ein auch nur einigermaßen gerechtes Bild von den beschriebenen Personen zu entwerfen, und möchte nochmals hervorheben, dass dies nichts als Erinnerungen aus lange zurück liegenden Zeiten sind, die sich gelegentlich wohl vermischen mit der Wirklichkeit und bei denen ich vor Missverständnissen keineswegs gefeit bin.

Zwar lernte ich meine beiden Urgroßeltern mütterlicherseits, Johann Valentin und Anna Elisabeth Linker (die ihrerseits aus Hatzbach, ca 16 km westlich bzw. Waldeck, ca. 52 km nördlich von Treysa stammten) noch kennen, doch waren beide damals schon recht alt und gebrechlich, hatten sich aus dem Berufsleben zurückgezogen und das Geschäft und die Werkstatt an ihre Kinder weitergegeben. (Ãœber die Hatzbacher Verwandtschaft hat ein Angehöriger der Familie, Konrad Weckesser in Karlsruhe, inzwischen geforscht und mir in den Jahren 2010 und 2011 auch verschiedene Unterlagen zugänglich gemacht, doch beziehe ich seine Ergebnisse hier nur am Rande ein, soweit sie für den Gang der Geschehnisse wichtig sind. Erinnern kann ich mich jedoch weder an eine Hatzbacher noch eine Waldecker Verwandtschaft.)

Mein Urgroßvater Valentin, der ein ausgebildeter Schmied war und in seiner Jugend als Hufschmied manches Pferd beschlagen hatte, hatte es sich gleichwohl nicht nehmen lassen, für mich, den Urenkel, einen kleinen, meiner Größe angemessenen, blau, grau und rot lackierten Schubkarren aus Holz zu bauen, mit dem ich auf den Wegen zwischen den Beeten auf meine Weise an dem Geschehen im Garten teilnehmen konnte. Und in früheren Jahren hatte der Urgroßvater für meinen Vater, um dessen Vergnügen am Fischen in der Schwalm er wusste, einen Angelrutenhalter geschmiedet und schließlich mit dunkelgrünem Lack überzogen. Man konnte ihn mit einer speerartigen Spitze in den Boden stecken und dann seine Angel in verschiedenen Winkeln mit Hilfe eines an einer Kette baumelnden Metallstiftes einhängen, so dass die Schnüre frei liefen und sich nicht im Gras oder Schilf verhedderten. Es war ein gut überlegtes Gerät, das völlig den Wünschen eines Anglers entsprochen hätte, wäre es auf Grund seiner massiven Ausführung nicht überaus schwer geraten. Im Rucksack des Anglers bedeutete es ein erhebliches Gewicht, so dass man sich seine Mitnahme stets zweimal überlegte.

Meine Großmutter Änne habe ich indes kaum mehr näher kennen gelernt, wenn sie auch eine meiner ersten bewussten Eindrücke von dieser Welt überhaupt ist, die ich mit einiger Sicherheit datieren kann. Sie starb im Jahre 1951, in ihrem siebenundvierzigsten Lebensjahr, und somit geht meine Erinnerung etwa auf mein drittes Lebensjahr zurück. Ich sehe sie in unserer Treysaer Küche sitzen, vor unserem langen, weißen Schiebeschrank, in dem große Töpfe und seltener benutztes Geschirr untergebracht waren. Ich machte mir damals öfters unter dem Küchentisch zu schaffen, um den Gästen in die Schuhe zu beißen, und aus jener Perspektive sehe ich sie oben am Tisch sitzen. Mehr ist mir nicht geblieben als dieses zwar blasse und schemenhafte, gleichwohl aber stets vorhanden gewesene Bild und dieser Eindruck von ihrer Anwesenheit. Ich möchte und kann dem auch nichts mehr hinzufügen an Einzelheiten, die ich vielleicht erst später auf Fotos gesehen habe. Von ihrem bald erfolgten Tod oder anderen Umständen weiß ich nichts mehr außer dem, was mir später erzählt wurde.

Änne galt fast als Heilige in unserer Familie, und nur Gutes kam mir zu Ohren. Sie war ein Arbeitstier und schmiss den Laden, wie man so sagt. Sowohl die Küche wie der Garten lagen in ihrer Obhut, und sie scheint in ihren vielfältigen, täglich neu sich stellenden Aufgaben völlig aufgegangen zu sein. Leben und Arbeit waren ihr wohl gleichbedeutend, und ich denke, dass mein Großvater sich ihr gewöhnlich und gerne unterordnete. Von eigenen Interessen, Liebhabereien und anderem Persönlichem habe ich nie reden hören. Vielleicht war diese starke Zurücknahme ihrer eigenen Person eine der Folgen, dass sie in einer großen Schar von Geschwistern aufgewachsen war, die alle noch in Treysa oder der näheren Umgebung lebten. Denn häufiger kommt es in großen Familien ja vor, dass hier die Kinder schon in Jahren, die ansonsten dem Spiel und der Unbeschwertheit vorbehalten sind, Pflichten und Verantwortlichkeiten für ihre jüngeren Geschwister zu Ã¼bernehmen haben.

Wie Änne altersmäßig in diese Familie gehörte, weiß ich nicht, auch wenn ich die näheren Verwandten früher oder später kennen lernte. Sehr wohl könnte sie die Älteste gewesen sein (was sich später als Irrtum erwies): Ihre Brüder Gustav und Ernst arbeiteten in der elterlichen Autoschlosserei und Tankstelle, unweit des alten Bahnhofs in der Friedrich-Ebert-Straße. Gustav war zugleich Fahrlehrer, Ernst glänzte durch besondere Leidenschaft für Motorräder, auf deren Pflege er höchsten Wert legte. Ein dritter Bruder namens Karl lebte in Ziegenhain, doch hielt er sich etwas abseits von der Familie; ich weiß kaum etwas über ihn und kann mich nicht erinnern, ihn einmal gesehen zu haben. Sein Sohn Karlheinz besuchte uns jedoch in Mannheim einmal in der Zeit, als meine Mutter im Krankenhaus lag.

An Schwestern von Änne gab es zunächst Else Mihm in Malsfeld, deren Mann früh gestorben sein muss und deren Sohn, Karl Mihm, schon früh als Kommunalpolitiker und CDU-Abgeordneter tätig wurde und heute noch lebt. Luise, die lange in Eschwege und Hildesheim wohnte, war mit Willi Ernst, einem Vertreter der Firma Hauboldt, die Eintrittskarten herstellte, verheiratet. Onkel Willi war eine Kategorie für sich. Nie wieder, außer vielleicht im Fernsehen, habe ich jemanden so schnell und ausdauernd reden hören wie ihn. Es sprudelte nur so heraus aus ihm, und er glich einem Wasserfall, der niemals still stehen wollte und konnte. Und er hatte beachtliches Talent zu überzeugen und die richtigen Argumente zur richtigen Zeit vorzubringen, was ihm in seinem Beruf sicher von einigem Vorteil war. Luise, seine Frau, war dagegen ruhig und introvertiert, ja sogar etwas depressiv veranlagt. Sie zog meinen Vater des öfters zu Rate, der ihren trüben Stimmungen durch Gespräche, aber auch aufhellende Medikamente beizukommen suchte. Sie war ebenso wie ihr fast schon erwachsener Sohn Günter, den wir Kinder sehr mochten, einmal längere Zeit bei uns zu Gast in Sinsheim.

Das einzige, das ich aus Ännes Zeit im Krankenhaus in Erinnerung habe, das aber auf den späteren Bericht meiner Mutter zurückgeht, war eine Rippenfell-Entzündung und ihr Wunsch nach einem gebratenen Täubchen. Ich weiß nicht, ob man ihr diesen Wunsch erfüllen konnte, doch kann man Todkranken, glaube ich, kaum einen Wunsch abschlagen, so ausgefallen und unverständlich dieser allen anderen auch sein mag.

Ännes Grab befindet sich auf dem Treysaer Friedhof, und mein Großvater Karl und meine Mutter sind unmittelbar neben ihr bestattet, so dass Eltern und Tochter hier wieder vereint sind.

 

 

Achtes Kapitel
Karl Christel

Karl Christel, der Vater meiner Mutter, verließ Treysa fast nie. Reisen war seiner Natur fremd, und meines Wissens hat er auch nie ein Auto oder Motorrad, ja nicht einmal ein Fahrrad besessen. Er ging zu Fuß oder nahm die Eisenbahn. In jungen Jahren hatte er zwar gedient und war im Ersten Weltkrieg als Soldat sogar in Russland gewesen, in späteren Jahren scheint jedoch Kassel der fernste Ort von Treysa gewesen zu sein, zu dem er aus freien Stücken fuhr.

Wir kannten durchaus diese Eigenheit, und so trauten wir unseren Augen nicht, als er zu jener Zeit, da meine Mutter bereits längere Zeit im Krankenhaus lag, plötzlich vor unserer Mannheimer Wohnungstür stand (unangemeldet, versteht sich), um seine Tochter, von deren schwerem Leiden er durch meinen Vater wusste, das erste und letzte Mal zu besuchen. Er weinte viel, sprach nur von Nebensächlichem, schnäuzte sich immer wieder ausgiebig und beschäftigte sich sofort mit unserer Katze, als diese ins Zimmer kam. Nach dem Besuch im Krankenhaus fuhr er noch am selben Tag wieder zurück nach Treysa. Jeder von uns wusste, wie ernst die Lage war, wenn er sich einmal über Kassel hinaus auf den Weg machte, und so drückte sein Besuch zusätzlich auf unsere Stimmung.

Karl Christel war mittelgroß und sehr schlank, ja hager und knochig, hatte eingefallene Wangen und schon früh eine kahle Stelle in seinem dünnen Haar. Er rauchte außerordentlich viel, so dass von seinen Zigaretten, die er während der Bedienung der Kundschaft ablegte, viele kleine Brandflecke an den Kanten der Buffets in der Bahnhofsgaststätte entstanden waren. Zugleich trank er ständig Kaffee, Pulverkaffee, der in großen Büchsen gleich heißem Wasser immer bereit stand und den er sich tassenweise selbst aufgoss, der aber ebenso oft wie die glimmenden Zigaretten in der Hektik des Betriebs in Vergessenheit geriet und irgendwo erkaltete, bevor er getrunken wurde.

Er trug meist dunkle, unauffällige Anzüge und Krawatte, manchmal mit einer Weste unter dem Jackett, was er seinem Beruf schuldig zu sein glaubte. Zu Hause hatte er eine dunkle Hose und eine einfache Strickjacke über einem weißen Hemd an. Frische, leuchtende Farben oder gemusterte Stoffe mochte er nicht. In früheren Jahren zog er jedoch, wenn er das Haus verließ, oft einen langen dunkelgrünen Lodenmantel an und setzte einen Hut mit Eichelhäherfeder und einem Rasierpinsel gleichenden Gamsbart auf, beides wohl als Erinnerung an seinen Vater, der gerne zur Jagd gegangen war. Sich selbst betrachtete er für die Jagd als völlig ungeeignet und konnte auch der Angelleidenschaft meines Vaters nicht das Geringste abgewinnen. Er begründete dies zwar mit seiner Unfähigkeit, lange still sitzen und warten zu können, vielleicht war aber auch seine große Tierliebe mit hierfür verantwortlich. Solange ich mich erinnern kann, hielt er sich einen Hund (in meiner Kindheit einen recht freundlichen Irischen Setter, „Treff“ genannt), und in höherem Alter nahm er sich mehrfach verhungerter oder kranker Katzen an, die in seinem Garten umherstreunten. Mit rohem Ei und Sahne päppelte er sie so lange, bis sie wieder zu Kräften gekommen waren.

Wegen eines Hundes gab es auch einmal Ärger mit der örtlichen Obrigkeit. Denn der Hund meines Großvaters hatte nichts Besseres zu tun, als allmorgendlich zur Polizeiwache am Marktplatz zu laufen und vor deren Tür sein Geschäft zu verrichten. Da der Zustand von Dauer war, zog man Erkundigungen ein, wem das Tier gehöre, und beschwerte sich bei meinem Großvater. Dieser verleumdete seinen Hund freilich nicht, nahm ihn vielmehr in Schutz und erwiderte, dass er hier machtlos sei; er könne dem Hund ja schlecht ein Töpfchen unter den Schwanz binden oder hinterhertragen. Die Polizei half sich schließlich selbst, indem sie den Wiederholungstäter mit einem Eimer kalten Wassers vergrämte.

Trotz der vielen Zigaretten, Unmengen von Kaffee und der verräucherten Räume, in denen er sich fast den ganzen Tag über aufhielt, war Karl Christel selten krank. Vielleicht kam ihm zugute, dass er durch seinen Beruf ständig in Bewegung war, fast nie alkoholische Getränke zu sich nahm, gewiss kein Ãœber-, sondern eher Untergewicht hatte und aufs Ganze gesehen ein sehr geregeltes Leben führte. Gegen Ärzte und ihre Ratschläge hegte er eine unwiderrufliche Abneigung, und dass mein Vater, sein einziger Schwiegersohn, ausgerechnet Arzt war, begründete sicherlich manche Spannung, auch wenn mein Vater die Unbelehrbarkeit seines Schwiegervaters wohl schnell erkannt und sich mit ihr abgefunden hatte.

Erst in höherem Alter erkrankte Karl Christel ernstlich an der Lunge, so dass er sich nach Marburg in die Universitätsklinik begeben musste und operiert werden sollte. Doch nach wenigen Tagen ertrug er seine Umgebung nicht länger. Er stand noch vor der Operation auf, zog sich wieder an, packte seinen Koffer und verließ die Klinik auf eigene Faust, um zurück nach Hause zu fahren. Danach erholte er sich, obgleich die Diagnose der Ärzte alles andere als günstig gewesen sein soll. (Mein Vater erkundigte sich später bei den Marburger Kollegen.) Er glaubte fest an seine Fähigkeit, sich ohne die ganze Quacksalberei aus eigenem Willen und eigener Kraft heraus helfen zu können, und verfüge über eine gesundheitliche Robustheit und Zähigkeit, der nichts etwas anhaben könne. Krankheit war ihm fast schon eine Art von charakterlicher Schwäche, die er sich nicht durchgehen ließ und gegen die er sich stolz und erfolgreich behauptete. Und wenn ich es auch nicht beweisen kann, so bin ich mir zumindest gefühlsmäßig doch recht sicher, dass dieser Widerstand von innen heraus, der auf der festen Ãœberzeugung von seiner Fähigkeit zur Selbstheilung gründete, ihn immunisierte und manche Krankheit nicht aufkommen, ausbrechen oder so verlaufen ließ, wie es die Schulmedizin erwartete. Einer der Sprüche, die ich von ihm in Erinnerung habe und die seine Meinung über die Ärzteschaft deutlich genug zum Ausdruck brachte, war der Anfang des Liedes vom Doktor Eisenbart:

                                    Ich bin der Doktor Eisenbart,
                                    Kurier’ die Leut’ auf meine Art,
                                    Kann machen, dass die Blinden geh’n,
                                    und dass die Lahmen wieder seh’n.

Auch gegen Zahnärzte richtete sich sein Misstrauen und seine entschiedene Abwehr (es gab ja gleich mehrere von ihnen in der Familie meines Vaters), und selbst als er im Alter schließlich alle Zähne verloren hatte, lehnte er es strikt ab, sich ein künstliches Gebiss anfertigen zu lassen. So kaute er ohne Zähne, so gut es eben ging, und versicherte, dass es ihm so lieber sei und nichts ausmache. Als ich ihn einmal fragte, ob er irgend etwas nicht kauen könne, meinte er, dass er, von Nüssen abgesehen, alles zu essen imstande sei.

Neben Ärzten waren ihm auch Geistliche oder allgemeiner die Kirche sowie alle Politiker schlechthin zuwider, und ich hörte ihn manches Mal über alle diese schimpfen, am häufigsten aber über den materiellen Reichtum des Papstes, der seinen Vorstellungen vom Christentum völlig zuwider lief. Indem er mich aufforderte, mir das Wort doch einmal genau anzusehen, erklärte er mir eines Tages den Sinn des Gebetes. Das Gebet sei nämlich nicht auf der zweiten Silbe, sondern auf der ersten zu betonen und sei als Aufforderung „Gebet!“ zu verstehen. Dieses sei die eigentliche Bedeutung und Botschaft des Wortes. Ich hatte Bedenken, wollte ihm aber nicht widersprechen, zumal die Erklärung auch ihre guten Seiten, ja sogar etwas Lustiges hatte.

Da er regelmäßig auf dem Friedhof das Grab seiner ersten Frau besuchte, entrüstete er sich außerordentlich, als er auf dem Grabstein eines Mannes, den ein Unfall seiner sechsköpfigen Familie beraubt hatte, die Inschrift las: „Was Gott tut, das ist wohl getan!“ Für solch ein Ãœbermaß an Schicksalsergebenheit, das für ihn an Dummheit grenzte, fehlte ihm jedes Verständnis. Ihm bei diesen Diskussionen indes nicht das letzte Wort zu lassen, hatte keinen Zweck. Es hätte ihn allzu sehr aufgebracht und verletzt. Mein Vater, dem eher an Ausgleich und Harmonie gelegen war, fand seinen Schwiegervater daher immer etwas zu fanatisch in seinen Anschauungen, worin ich ihm nicht Unrecht geben kann. Denn Streit in Fragen wie den genannten artete zu schnell in Rechthabereien mit erhobener Stimme und geballter Faust aus, so dass man manchmal sehr auf der Hut sein musste, nicht allzu Herausforderndes zu äußern. Man ging diesen Diskussionen besser ganz aus dem Wege, lenkte ab oder pflichtete ihm notfalls bei, bis die Klippe umschifft war und die Wogen sich wieder geglättet hatten. Denn auch wenn die Dinge, um die es ging, einen selbst gar nicht betrafen, geriet man doch schnell in den Verdacht, auf der falschen Seite zu stehen.

 

 

Neuntes Kapitel
Karl Christel (Forts.)

Als ich noch ein kleines Kind war, zu klein, um irgend etwas von dem nachstehend Geschilderten wahrzunehmen und zu verstehen, hatte sich zudem etwas zugetragen, das mir auch heute noch sehr eigentümlich erscheint und von dem ich hier, da es das mitunter sehr jähzornige und aufbrausende Wesen meines Großvaters etwas näher beleuchtet und etwas über seinen Charakter aussagt, kurz berichten möchte.

Nach dem Tod von Änne hatte Karl Christel wieder eine Frau gefunden, die mit ihm gemeinsam die Bahnhofsgaststätte bewirtschaftete und in erster Linie natürlich auch wieder für die Küche zuständig war. Als jedoch von einer Heirat und damit einer zweiten Ehe die Rede war, kam es zu erheblichen Streitigkeiten mit meinen Eltern, nicht zuletzt wegen des Erbes meiner Großmutter. Da tat Karl Christel nach einer heftigen und anscheinend ganz außer Kontrolle geratenen Auseinandersetzung etwas sehr Ungewöhnliches, ja Maßloses. In äußerster Wut suchte er sich die Photoalben, in die man viele Jahre hindurch die Familienbilder eingeklebt hatte, selbst aufgenommene oder von anderen erhaltene, und riss sein eigenes Bild, wo immer es in Erscheinung trat, mit roher Gewalt heraus. Klebte ein Photo zu fest an der Pappe, bediente er sich eines Messers oder anderen scharfen Gegenstandes, um sein Gesicht auf dem Papier zu zerkratzen und unkenntlich zu machen. Es war eine Art des Bildersturms, eines Mordes an der Vergangenheit, auch eine Art der Selbstzerstörung, die sich stellvertretend an den Photos entlud, halb sich selbst, halb die anderen strafend. Vielleicht betrachtete er sich in seinem tiefsten Inneren als nicht mehr zur Familie gehörig und wollte in seinem gekränkten Stolz die Erinnerung an seine Person für den Rest der Familie auslöschen. Gleichviel war klar, dass er sich gerade durch diese Handlungsweise und die unwiderrufliche Zerstörung der Photos in besonderem Grad unvergesslich machte, was aber auch ein unbewusster Gedanke seines Tuns gewesen mochte. Es war etwas sehr Symbolisches an seinem Handeln, ein Sich-Aufbäumen gegen das Schicksal und In-den-Schmutz-Treten des Glücks von einst, eine Art des Amoklaufs gegen die eigene Vergangenheit, eine Form der Selbstverstümmelung. Ich habe diese Photoalben in früheren Jahren mehrfach in der Hand gehabt und meine Eltern nach der Herkunft der Beschädigungen befragt, und dies war jedenfalls ihre stets etwas verlegene und ausweichende Erklärung, auf die ich mir meinen eigenen Reim zu machen hatte. Genauere Hintergründe und Einzelheiten enthielten sie mir vor; vielleicht war dies auch besser so.

Die Ehe, die sich unter so dramatischen Umständen angebahnt hatte, kam zwar nicht zustande, doch heiratete Karl Christel später, ich schätze 1953, eine andere Frau, die mit ihrem Sohn aus dem Osten hatte fliehen müssen und welcher hiermit der damals nicht ungewöhnliche Makel anhing, „Flüchtling“ zu heißen und ständig nur auf Wiedergutmachung, Reparationen und Ausgleichszahlungen erpicht zu sein. Diese Frau, deren Namen nichts zur Sache tut und die sich meinen Eltern und uns Kindern gegenüber stets korrekt und freundlich verhielt, nahm sich in späteren Jahren in dem Haus in der Burggasse, wo mein Großvater mit ihr zusammen die mittlere Etage bewohnte, das Leben. Mein Großvater erzählte nach ihrem Tod zum Teil haarsträubende, entsetzliche Dinge über sie, von denen ich aber nicht weiß, ob sie sich wirklich so zugetragen haben, wie er sie schilderte. Er steigerte sich in solchem Maße in Anklagen und Beschuldigungen und gab die Ereignisse mit solcher Heftigkeit wieder, dass es schwer war, sich vorzustellen, er schmücke sie nicht mitunter aus und übertreibe ein wenig, um selbst besser dazustehen und eine womöglich vorhandene Mitschuld, die er zu Recht oder nicht empfand, zu schmälern. Vielleicht musste er gelegentlich auch alles das herauslassen und loswerden, was er Fremden gegenüber gewöhnlich nicht aussprechen konnte, zumal er auch als Wirt ständig so vieles mitanhören, einstecken und schlucken musste an Meinungen und Ansichten, Wahrem und Erdichtetem.

Manche Menschen, besonders wenn sie ein Glas über den Durst getrunken haben, betrachten die Wirte der Gaststätten ja als eine Art von Beichtvätern. Dann weinen sie sich ihr Leid und ihren Jammer aus der Seele und meinen, endlich jemanden gefunden zu haben, der sie verstünde und ihnen Trost spenden könne. Dabei vergessen sie in ihrer Not, die man ihnen ja nicht absprechen kann und möchte, dass auch dieser Wirt ein Mensch mit eigenen Nöten und Sorgen ist und dass seine Anwesenheit und seine Abneigung, ihnen zu widersprechen, ganz professionelle, geschäftliche, aber kaum je seelsorgerische Gründe hat. Man bezahlt ihn nicht dafür, dem Kunden sein Ohr zu leihen und ihm die Tränen zu trocknen, sondern für das Glas Bier, den Kartoffelsalat, die Frikadelle und den Verdauungsschnaps, die er auf Bestellung herbeibringt. Dennoch muss er auch alles Elende, Gemeine, Interne, ja Intime unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitanhören, sobald man es ihm angeheitert oder melancholisch lallelnd anvertraut, und das Mitgeteilte wird, ohne dass er sich ihm gänzlich entziehen könnte, ein winziges Stückchen seiner selbst, auch wenn er es scheinbar sofort wieder vergisst und es für ihn keine äußere, sichtbare Bedeutung haben mag.

Loyalität und Geduld gegenüber dem zahlenden Kunden hatten freilich auch bei Karl Christel ihre Grenzen, und er ließ sich nicht alles und jedes gefallen, besonders wenn er sich persönlich angegriffen fühlte. Zumindest eine Begebenheit wurde mir erzählt, in der er sich zur Wehr setzte. Ein Gast hatte sich beschwert, dass die Tasse Fleischbrühe, die er bestellt und serviert bekommen hatte, nicht heiß genug sei. Ob dies nun stimmte oder nicht, ist gleichgültig. Karl Christel war jedenfalls gekränkt – vielleicht in seiner Berufsehre, vielleicht auch durch die Art, in der die Beschwerde vorgebracht wurde, vielleicht beides – und sann auf Vergeltung. Er nahm die Tasse mit der Brühe wieder mit und setzte sie samt Untertasse und Löffel auf eine Elektroplatte. Dann erhitzte er das Ganze auf höchster Stufe, bis es in der Tasse zu sieden begann, und brachte sie, mit einem Topflappen haltend, unverzüglich dem Gast zurück, für den sie bestimmt war. Die erste Berührung der Tasse, der Brühe oder des Löffels dürfte diesen schnell belehrt haben, dass der Grund seiner Beanstandung nunmehr behoben sei. Ob er freilich seinen Zug noch erreichte, ehe die Brühe trinkbar wurde, steht auf einem anderen Blatt.

 

 

Zehntes Kapitel
Karl Christel (Ende)

Karl Christel war in früheren Jahren durchaus wohlhabend gewesen, wenngleich er nie hiervon viel Aufhebens machte und bescheiden, ja anspruchslos lebte. Er hatte nicht nur Einiges an Grund und Boden, darunter einige verpachtete Äcker besessen, sondern neben dem Haus in der Burggasse gehörte ihm auch ein Geschäftspavillon gleich am Bahnhof, den ein Juwelier von ihm gemietet hatte. Seinem Stiefsohn baute er eine riesige elektrische Spielzeugeisenbahn auf, die das ganze Vorzimmer des einstigen Labors meines Vaters so ausfüllte, dass man sich kaum mehr darin bewegen konnte, und in späterer Zeit gab es im Treysaer Bahnhof ein Zimmer voller kleiner, untereinander verbundener Käfige, in denen er zeitweilig Chinchillas züchtete. All dieses zeigte, dass es ihm an Geld kaum mangelte, denn es handelte sich hier um kostspielige Liebhabereien, selbst wenn man die Chinchillas als eine Form der Kapital-Anlage gelten lassen könnte, die sich mit der Vermehrung der Tiere verzinste.

Allerdings will es mir gerade bei seiner Chinchilla-Zucht nicht in den Kopf, dass man ihm hier nicht etwas eingeredet habe, dessen Folgen er nicht genau übersah. Die Sache war zu ausgefallen, als dass er aus freien Stücken und eigenem Antrieb darauf verfallen wäre, und ich halte es für wahrscheinlicher, dass ein redegewandter Vertreter ihm von den hohen zu erwartenden Gewinnen bei nur geringen Investitionen etwas vorgeschwärmt und -gerechnet und dabei das Blaue vom Himmel heruntergelogen hatte, um selbst in den Genuss irgendwelcher Provisionen und Beteiligungen zu gelangen. Chinchillas im ersten Stock des Treysaer Bahnhofs zu züchten, damit man den putzigen Tierchen eines schönen Tages den Garaus macht, das Fell über die Ohren zieht und Frau Dummchen-Neureich sich dann bei dem Kürschner ihres Vertrauens einen fünften Pelzmantel zum Wechseln maßschneidern lassen kann, das passte alles nicht zusammen. Eher scheint mir all dies, wenn überhaupt etwas, dann allenfalls die Naivität meines Großvaters zu bezeugen, die sicher etwas von Gutmütigkeit, aber auch von Leichtgläubigkeit hatte. Er gehörte zu den Menschen, die sich mitunter gut und gerne hintergehen ließen und die nicht nein sagen konnten, wenn der Richtige kam und ihnen eine offensichtlich schwachsinnige, dafür um so teurere Idee aufschwatzte und sie dabei auch noch glauben machte, sie ließen sich auf ein besonders kluges Geschäft ein. Und anschließend besaß Karl Christel nicht den Mut, Farbe zu bekennen und sich und den anderen einzugestehen, dass seine Träume einer nach dem andern wie Seifenblasen zerplatzten, und lange dauerte es, bevor er, längst von den Ereignissen überholt, dem Spuk ein Ende machte. Aber Lehrgeld zu zahlen, bleibt nun einmal keinem erspart, und früher oder später begehen die meisten von uns (ich kann mich leider nicht ausnehmen) ganz ähnliche oder andere, wenn nicht schlimmere Dummheiten. Wie anders sollten wir lernen, den Wert von Worten und Dingen einzuschätzen, wenn nicht durch unsere eigenen Torheiten und Verluste? Was heute Gewinn erbringt, kann morgen zum Ruin führen. Gute Reden und wohlgemeinter Rat helfen da bekanntlich wenig, und das schlechte Beispiel anderer fordert eher noch heraus, im Stillen bei sich zu denken, man selbst hätte die Sache schon anders anzupacken gewusst.

Einen ähnlichen, wenn auch nicht ganz so kostspieligen Fall hatte es gegeben, als mein Großvater Mitglied eines Bücherclubs wurde, obwohl ich ihn nie etwas anderes als die Zeitung, den Schwalm-Boten oder auch die Bildzeitung habe lesen sehen; mit einem Buch in den Händen wäre er mir fremd erschienen, und ich hätte mich gefragt, ob etwas nicht stimme. Ich fand dies erst in späteren Jahren heraus, als ich gegen Ende der Gymnasialzeit in den Ferien einmal zwei Wochen bei ihm wohnte und hierbei einen ganzen Schrank voller Bestseller und anderer „Hauptvorschlagsbände“ fand. Diese hatte ihm ein Bücherclub vierteljährlich mit Rechnung ins Haus geschickt, da er versäumt hatte, sich rechtzeitig, wie es sich gehörte, in jedem Quartal einen Titel aus dem Angebot des Clubs zu bestellen oder eben seine Mitgliedschaft nach Ablauf eines Jahres wieder zu kündigen. So füllte sich der verfügbare Raum des Schranks bis in die zweite Reihe mit einer Auswahl der gängigen Trivialliteratur, mit Liebes-, Heimat- und Kriegsromanen, denen man heute auf jedem Flohmarkt kartonweise wiederbegegnen kann. Mein Großvater schenkte mir sogar mehrmals Bücher hiervon, ohne dass ich jemals ein Interesse für sie bezeugt hätte, und ich erinnere mich besonders an die dickleibigen „Angelique“-Romane und sonstigen Käse, den ich in Mannheim in einem heruntergekommenen Antiquariat gleich wieder für wenige Mark verkaufte und das Geld verwendete, um mir eine vierbändige Schopenhauer-Ausgabe zuzulegen, auf die ich schon lange ein Auge geworfen hatte. Ich kann es heute nur als eine Art von Willensschwäche und Torheit verstehen, sich so leicht hinters Licht führen zu lassen und so verschwenderisch mit seinem sauer verdienten Geld zu haushalten. Aber vielleicht kam es Karl Christel auf die paar Mark nicht an, und der Anblick seines sich füllenden Bücherschranks erfüllte ihn mit Genugtuung, ja sogar einem gewissen Stolz, dass auch er ein gebildeter, belesener Mann sei und diese Sammlung von Büchern der beste, weil sichtbare Beweis hierfür war.

Großzügigkeit verband sich einem Wohlstand, der sich seiner sicher war und der sich gegebenenfalls etwas gönnen und leisten durfte; es sich auch leisten konnte, Geschenke, zum Teil teure Geschenke zu machen. Andererseits ließ sich diese Großzügigkeit ausnutzen, wenn es darauf angelegt wurde, und so schmolz der einstige Reichtum Karl Christels, je älter er wurde, immer mehr dahin. Teuer Erworbenes, wie etwa die Modelleisenbahn, wurde billig wieder verkauft; dann, nachdem er sich im Alter aus dem Geschäft zurückgezogen hatte und die Einnahmen bis auf eine Rente ausfielen, war zwar nie Mangel vorhanden, aber es reichte zu nicht viel mehr als zu einem Leben in bescheidenen Verhältnissen, was ihm aber vielleicht auch reichte, denn er war, wie gesagt, sehr genügsam. Zwar gab es Rücklagen, aber diese waren für die schlechten Zeiten bestimmt und wurden natürlich nur im Notfall angegriffen.

Karl Christel wohnte in seinen letzten Jahre in der oberen Burggasse zusammen mit einer etwas jüngeren Frau, die er auf dem Friedhof an Ännes Grab kennen gelernt hatte. Auf diesen Umstand wies er immer wieder hin, als habe es sich hier um eine besondere Fügung des Schicksals, ja der Vorsehung gehandelt, dass sie einander begegnet waren. Ich lernte diese Frau kennen, und mein Eindruck war, dass die beiden im Grunde gut zueinander passten, sich verstanden und ergänzten. Sein Haus, die Burggasse 8, hatte Karl Christel an die Stadt verkaufen müssen, da es einer geplanten Straßenführung im Wege stand. Mehrfach wurde eingebrochen, als er noch im Umzug begriffen war, und man stahl den alten Leuten so manches, einiges sozusagen unter ihren Augen, was sie sehr erbitterte.

Dann war endlich ausgeräumt, und man riss das Haus ab. Die Wohnung, die man ihm als Ersatz geboten hatte, war nicht viel kleiner als seine alte, doch war es natürlich kein eigenes Haus mit eigenem Garten mehr, sondern ein Mietshaus mit drei oder vier Parteien. Die tägliche Zeitung, ein Spaziergang hinüber zum Friedhof, um auf den Gräbern die Blumen zu gießen, das Wasser der Schnittblumen zu wechseln oder etwas Unkraut zu jäten, das Einkaufen, die Abende vor dem Fernsehapparat (am liebsten mit „Wetten, dass ...?“ und Thomas Gottschalk), viel Abwechslung gab es nicht. Aber vielleicht suchte er die Abwechslung auch nicht und war zufrieden mit dem Leben, das er nun führte. Zwei Ehefrauen und das einzige Kind waren ihm gestorben, sein Haus war abgerissen. Wer könnte sagen, wie es in seinem Inneren aussah, welche Gefühle ihn bewegten und was für Gedanken sich in seiner Seele und seinem Herzen regten?

 

 

Elftes Kapitel
Das Labor

Auf das Labor in Treysa möchte ich aus verschiedenen Gründen zurückkommen. Seine mögliche Bestimmung wurde mir aber erst viel später klar, und ich habe meine Vermutungen im zweiten Absatz des sechsten Kapitels darüber geäußert.

Zumeist spielte sich für uns Kinder die eigentliche ärztliche Tätigkeit meines Vaters ja im Unsichtbaren, hinter verschlossenen Türen ab. Er ging frühmorgens nach Hephata zur Arbeit – zunächst tatsächlich zu Fuß, später nahm er für den recht weiten Weg sein Motorrad der Marke NSU –, kam mittags zum Essen zurück und verließ dann abermals das Haus, um erst am frühen Abend wiederzukehren. Von dem, was er in der fernen Anstalt tat, wussten wir fast nichts oder erfuhren allenfalls das ein oder andere aus dem, was er uns erzählte. Gleichwohl erfüllte es uns mit Stolz, einen Arzt als Vater zu haben, den alle achteten und der seinen Beruf, weithin sichtbar, mit einem Schild schwarz auf weiß an unsere Haustüre schrieb.

Hier in seinem Labor jedoch, in dem es so eigentümlich säuerlich roch wie sonst nirgendwo, sahen wir ihn, in einen weißen Kittel gekleidet, mit eigenen Augen vor uns irgendwelchen Arbeiten nachgehen, die natürlich mit seinem ärztlichen Beruf in Verbindung standen und bei denen es, soviel war klar, darum ging, die Art einer Erkrankung mit verschiedenen Verfahren ausfindig zu machen. Auch wurde dieses eindrucksvolle Labor beinahe bestimmend für meinen späteren Lebensweg, denn, wie erwähnt, schwankte ich längere Zeit zwischen der Entscheidung, den Beruf eines Chemikers oder Musikers zu ergreifen, und selbstverständlich eiferte ich hier in gewisser Weise dem Vorbild meines Vaters nach.

Mein Vater zeigte mir zwar den großen silbernen Brutschrank, eines der größten und auffälligsten seiner technischen Hilfsmittel, in dem in sogenannten Petrischalen Kulturen bei genau einzuhaltenden Temperaturen gezüchtet und dann unter dem Mikroskop betrachtet wurden. Doch wozu dies alles gut war, was sich im Einzelnen daraus für Schlussfolgerungen ziehen ließen und was für Maßnahmen und welche Behandlung ein Arzt auf Grund dieser Befunde zu ergreifen hatte, dies alles war mir natürlich noch unverständlich und nur schwer erklärbar. Außer einem sehr allgemeinen Eindruck dessen, was hier geschah, prägten sich mir daher nicht viele Einzelheiten ein. Allein dass der freundliche Besitzer des „Hotels zur Burg“, wenige Schritte die Burggasse hinauf, ebenfalls Petri hieß, warf Fragen auf, verwirrte und ließ mich eine Verbindung zwischen ihm und diesen gläsernen Tellerchen in dem Brutschrank mutmaßen. Doch welcher Art mochte dieser Zusammenhang sein? Und hing dies beides vielleicht mit jenem „Petri Heil!“ zusammen, mit dem sich mein Vater und andere Angler oft grüßten? War ich auch noch zu jung, um etwas vom Sinn der Apparaturen und Gerätschaften, den vielen Flaschen und Gläsern oder gar ihrem Inhalt zu verstehen, so nahm ich aber doch etwas wahr von dem Ernst, der hier bestimmend war, von der Ordnung, Sauberkeit und Zweckmäßigkeit der Aufbauten und Einrichtungen, die alle besonderen Zielen dienten und zu deren Benutzung es gewisslich weitreichender, achtunggebietender Kenntnisse bedurfte.

Das Labor meines Vaters sei für kurze Zeit verlassen, denn ähnliche Fragen wie die, welche um die Petrischalen kreisten, entsprangen meiner kindlichen Vorstellung mehrfach. Bekanntes und Unbekanntes, Vertrautes und Befremdliches gerieten dabei in enge Nachbarschaft, was zu teilweise recht seltsamen Schlüssen führte. So verdankte sich eine Reihe von Fragen jenen „Schuldigern“, die in jedem Vaterunser am Ende der fünften Bitte vorkamen: „und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“. Zwar wusste ich, wie schlecht man sich fühlt, sobald man etwas Verbotenes tat, selbst schuldig wurde und das Geschehene bereute; doch was eigentlich Schuldiger seien, wie man ihnen zu begegnen habe und auf welche Weise ihnen zu vergeben sei, wusste ich damals nicht. Um aber möglichst viel von dem Gesagten zu begreifen, schlug ich das mir geläufige „gern“ am Wortende, auch wenn es eigentlich ein Dativ Plural war, dem „vergeben“ zu, wodurch sich nun freilich alle Unkenntnis in dem Wort „Schuldi“ sammelte. Ich beließ es jedoch dabei, übersprang oder unterschlug den Sinn des mir Unklaren und gebrauchte, da ich mich zwar nicht ganz, aber doch wenigstens ein Stückchen näher an der Wahrheit wähnte, fortan die Wendung: „wie wir vergeben unsern Schuldi gern.“ Wer oder was diese „Schuldi“ waren, blieb offen. Doch wir vergaben ihnen gern, und das war ja wohl die Hauptsache.

Auch der Name des Polizisten Martin Ross, der eine Weile ein Zimmer in dem von meiner Familie bewohnten Erdgeschoss des Hauses gemietet hatte, wurde Anlass zu solchen Vermutungen, denn es gab gleich vor unserer Haustür einige alte Kastanienbäume im unteren Teil der Burggasse. Und wenn man im Herbst die schönen braunen Kastanien vom Boden auflesen konnte, sprach man manchmal von den Rosskastanien. Wie sollte ich da nicht an einen Zusammenhang mit Martin Ross denken? Und dass Martin Ross gelegentlich mit einem Eimer, einer kleinen Schaufel und einem Kehrbesen durch die Straßen zog, um später sein Erdbeerbeet mit frischem Dünger zu versorgen, schuf meine eigene Rossäpfeltheorie. Denn es war bekannt, dass Martin Ross die größten und besten Erdbeeren in der Umgebung erntete und er sich hierfür der leicht auffindbaren und von ihm eigenhändig unter den Pflanzen zerkrümelten Hinterlassenschaften der Pferde bediente.

Das Labor bestand aus zwei aneinanderschließenden Zimmern. Im ersten, dem kleineren, waren eine mit schwarzem Leder bezogene Liege, eine Personenwaage, eine Höhensonne, ein Röntgengerät und ein weißer Metallschrank mit verglasten Türen für verschiedene ärztliche Instrumente aufgestellt, und vermutlich war dieses Zimmer vor allem zur Untersuchung von Patienten vorgesehen. In dem eigentlichen Labor bildete ein langer Arbeitstisch das Zentrum und gleichsam eine Insel. Er war von beiden Seiten benutzbar und so hoch, dass man nur im Stehen daran tätig werden konnte. Ãœber seiner Mitte befand sich auf ganzer Länge ein schmaleres mehrstufiges Regal mit Reagenzien, so dass auch sie beidseitig zugänglich waren. Die Arbeitsfläche war mit weißen Fliesen belegt. Zum Erhitzen gab es einen Spiritusbrenner aus Glas, den sich meine Mutter vor den Festtagen oftmals zum Sengen der Weihnachtsgans auslieh. Der Unterbau des Tisches enthielt mehrere Schubladen und Schränkchen, in denen größere Geräte und alles, was man nicht ständig brauchte, aufbewahrt wurden. Rings um diesen Mittelpunkt waren entlang der Wände verschiedene Tische und Apparate angeordnet wie der schon erwähnte Brutschrank, eine elektrische Zentrifuge oder ein Mikroskop in der Nähe des Fensters.

Unmittelbar in Zusammenhang mit diesem Laboratorium stand eine Erfindung meines Vaters, die er in den ersten Nachkriegsjahren entwickelt hatte. Hierbei handelte es sich um ein Gerät, das bei der mikroskopischen Diagnostik einsetzbar war und das er â€žFärbebrücke“ getauft hatte. Man konnte in ein Metallgestell eine ganze Reihe von gläsernen Objektträgern mit den zu untersuchenden Präparaten einspannen und mit Hilfe einer Kippvorrichtung gemeinsam durch eine färbende Flüssigkeit führen, die sich in einer Wanne im unteren Teil des Gerätes befand. Eine Schräglage der Brücke ließ die überschüssige Flüssigkeit zurück in die Wanne tropfen. Dieses Verfahren ersetzte das individuelle Eintauchen der Objektträger in eine Farblösung und rationalisierte die Arbeitsschritte, sobald eine größere Anzahl von Proben zu untersuchen war. Nahmen die Präparate auf den Objektträgern die Farbe der Lösung an oder stießen sie ab, ließen sich, grob gesprochen, hieraus bestimmte Rückschlüsse auf Erkrankungen ziehen. Mein Vater reichte die Erfindung beim Patentamt ein und erhielt alsbald eine Urkunde. An einem Sonntag, bald nach der Währungsreform von 1948, soll früh morgens der Geldbriefträger an das Fenster des Schlafzimmers meiner Eltern geklopft und, so unerwartet wie freudig begrüßt, eine Vergütung von eintausend Mark, gebracht haben, da sich eine Firma für die Auswertung des Patents gefunden hatte. Wie viel Geld dies war, lässt sich vielleicht daran ermessen, dass mein Vater zu Beginn der fünfziger Jahre in Hephata einen Monatsgehalt von einhundertundachtzig Mark erhielt.

Für kurze Zeit beschäftigte mein Vater in dem Labor einen recht freundlichen jungen Mann, der aus altem Adel stammen sollte und den wir gewöhnlich den Herrn von Kerzenbrock nannten, der vielleicht aber richtiger von Kerssenbrock hieß. Er hielt sich zumeist in dem Labor auf und packte hier auch seine Frühstücksbrote aus. Manchmal nahm er uns auf seinen Schoß und ließ uns bei seinen Arbeiten, die er an einem Tisch sitzend verrichtete, zusehen. Dann erlaubte er uns, auf den ein oder anderen Knopf zu drücken oder einen Schalter zu betätigen, ohne dass hierdurch weiter Aufregendes geschah. Aber wir hatten kaum mit mehr gerechnet und waren auch so schon sehr zufrieden, an dem wichtigen Geschehen irgendwie beteiligt zu sein und nicht nur Fragen stellen zu dürfen und Erklärungen zu hören, die unser Fassungsvermögen oft überstiegen. Mit Helmut Christiani, einem in Treysa lebenden Erfinder, der in einer Garage ständig am Bauen und Basteln war, war mein Vater zudem befreundet. Auf welches Gebiet sich seine Erfindungen aber bezogen, ist mir nicht bekannt. Christiani wanderte bald nach Australien aus, unterhielt aber von dort immer noch als Amateurfunker Verbindung zu der Heimat.

Das Labor wurde auch der Schauplatz einer kleinen Geschichte, die mein Vater in späteren Jahren erzählte. Er hatte kurz nach dem Krieg einmal einen Kollegen bei sich zu Gast, der offenbar sehr gerne trank, sicherlich allzu gerne und allzu viel. Doch es waren Zeiten der Knappheit, und kaum jemand hatte die Mittel, sich Spirituosen zu leisten, abgesehen davon, dass sie nur schwer zu beschaffen waren. Mancher Gartenbesitzer betrachtete sein Obst jetzt mit anderen Augen und verlegte sich im Herbst auf die Schwarzbrennerei. Mein Vater verfügte freilich für sein zugelassenes Labor über einen Bezugsschein, da er des Alkohols für bestimmte chemische Reaktionen bedurfte, und so besaß er eine ganze Flasche hiervon in hoher Konzentration. Da er seinem Kollegen nun gerne etwas zum Trinken anbieten wollte, um den Gebräuchen der Gastlichkeit nachzukommen, verwies er auf diese eine Flasche in seinem Labor als die leider einzige Möglichkeit; anderes war nicht im Haus. Doch der Kollege machte keine Umstände, begleitete meinen Vater erfreut sogleich ans Ziel seiner Wünsche und meinte, als mein Vater noch nach einem Gläschen zum Einschenken suchte, das gehe auch so. Dann nahm er kurzerhand den eingeschliffenen, innen hohlen Glasstöpsel von der Flasche, kehrte ihn um, goss sich ein und trank, ohne mit der Wimper zu zucken, diesen chemisch reinen, hochprozentigen Alkohol.

Von einem Besuch anderer Art erfuhr ich, gleich dem vorausgegangenen, erst in höherem Alter, doch ging es auch hier um das Labor. Einmal kam es nämlich zu einer amtlichen Ãœberprüfung, einer Visitation oder Kontrolle, die dazu diente, meines Vaters schriftliche Angaben zu bestätigen. Da der Besuch des Kontrolleurs nach dem Mittagessen stattfand, traf er meinen Vater aber bei seinem gewohnten Schläfchen in einem der Sessel des Wohnzimmers an. Und da der Mann meinen Vater nicht wecken wollte und selbst eine gewisse Müdigkeit verspürte, setzte er sich zwanglos in einen anderen Sessel, um hier zu warten, bis mein Vater wieder aufwache. Mein Vater wurde zwar halb munter, doch beschwichtigte ihn der Kontrolleur sogleich und bedeutete ihm, ruhig weiterzuschlafen, denn er sei ebenfalls müde und könne etwas Schlaf gebrauchen. Danach nickte er ein. Auch mein Vater war wieder eingeschlafen, doch war er nicht wenig erstaunt, sich bei seinem endgültigen Erwachen einem wildfremden schlafenden Mann in seinem Wohnzimmer gegenübersitzen zu sehen, bis ihm das Geschehene allmählich wieder zu Bewusstsein kam.

Ebenso müsste sich die folgende Begebenheit auf die Treysaer Zeit beziehen. Und käme auch Sinsheim in Betracht, wohin mein Vater sein Labor später bei einem Umzug mitnahm, wiederaufbaute und endlich vor dem nächsten Umzug verkaufte, so war ich doch in jener Zeit bereits zu alt und müsste auf die ein oder andere Weise erfahren haben, dass sich das Beschriebene in Treysa zugetragen hatte. In diesem Labor suchte mein Vater eines Tages einen Liebigkühler, ein einfaches, aber keineswegs sehr kleines, durchsichtiges Destillationsrohr aus feuerfestem Glas, in dessen Mitte ein zweites, ebenfalls gerades und von Kühlwasser umspültes Rohr verlief. Die aus einem erhitzten Kolben steigenden Dämpfe wurden durch das mittlere Rohr geleitet und schlugen sich hier an den gekühlten und schräggestellten Wänden nieder. Das Kondensat sammelte sich und tropfte in eine sogenannte Vorlage unter dem Auslauf des Kühlers. – Dieses Gerät, das bereits vor Liebig benutzt, von ihm aber verbreitet wurde und daher seinen Namen trug, konnte mein Vater jedoch nicht finden, so sehr er auch danach suchte. Gleichwohl wusste er natürlich, dass ein solches in seinem Besitz war. Und da er nun längere Zeit vergeblich gesucht hatte, wendete er eine neue Technik an, sich zu erinnern, eine Technik, von der er im Rahmen seines Studiums gehört haben mag oder die er anderweitig in Erfahrung gebracht hatte. Er dachte nicht länger an den gesuchten Gegenstand und entspannte sich, als ob er in einem ganz anderen Raum sei und vielleicht im Bett oder auf einer Couch liege. In diesem Zustande blieb eine Weile und vergaß den gesuchten Gegenstand völlig. Plötzlich stürzte er zu einer Schublade in seinem Labor, zog sie auf, und vor ihm lag der gesuchte Kühler. Die Bewertung dieser Geschichte, die sich vermutlich wirklich ereignet hat und mit der ich auch nichts zu beweisen versuche, sei freilich jedem Leser anheimgestellt.

Auf eine vorletzte Begebenheit, die mit dem Labor oder seiner Bestimmung in gewisser Weise zusammenhängen mag, möchte ich aufmerksam machen. Es handelte sich dabei um ein Kunstwort, das mein Vater erfunden hatte, ein Wort, das sich gleichermaßen durch seine Länge wie seine Pseudowissenschaftlichkeit auszeichnete. Wahrscheinlich konstruierte er es nach seinem gymnasialen Lateinunterricht im Rahmen seines Marburger Medizinstudiums, denn diese Einflüsse sowie eine Art von studentischem Schabernack, der mit Worten nur spielt, anstatt sie mit Sinn zu erfüllen, sind unverkennbar. Es lautete: Kontrasubzentrifugalregulatorengleichheitswiderstand – ein Ungetüm von Wort, das ich während meiner Schulzeit in etwas halbherzigem Scherz gelegentlich am Ende um eine „Gesetzbuchseite“ erweiterte, um selbst einen Teil beigetragen und das Wort so noch länger und vielsilbiger gemacht zu haben. Zwar verbarg sich dahinter nichts Konkretes, sondern stellte nur etwas vor, das es nirgendwo gab; doch wenn es auch reines Papierwissen war, hörte ich das Wort häufig genug, um sich mir einzuprägen. Und da der Ausdruck „zentrifugal“ in dem Kunstwort vorkam, nehme ich an, dass ein Bezug zu einem medizinischen Labor bestand, in dem auch eine Zentrifuge zum Inventar gehörte.

Beschließen möchte ich dieses Kapitel mit einem Blick auf die Hände meines Vaters, genauer gesagt: auf seine rechte Hand, die neben einer mächtigen Schreibschwiele, die auf seine handschriftlichen Arbeiten mit dem Füllfederhalter zurückging, auf dem äußeren Teil des Mittelfingers eine große Narbe zeigte. Diese Narbe bestand aber nicht in einer Vertiefung der Haut, sondern umgekehrt in einer reliefartigen Erhöhung. Wie dies Kinder gerne tun, untersuchte ich auch die Hände meines Vaters, erblickte diese Narbe mit ihrer ungewöhnlichen Form und fragte ihn sogleich, was das sei. Nun, seine Antwort war etwa, dass es eine Narbe sei, die er sich einst im Labor mit kochender Salzsäure zugezogen habe, als ein Spritzer davon auf seine Hand gekommen sei. Später, nachdem die Wunde verheilt war, habe er sie fast vergessen, da sie ihm keine weiteren Schmerzen verursacht habe. Gleichwohl wurde diese Narbe in seinen Personalausweis einst als „besonderes Kennzeichen“ eingetragen.

 

 

Zwölftes Kapitel
Onkel Noll

Kam ich aus unserem Haus und nahm den gewöhnlichen Weg durch das alte schmiedeeiserne Tor, stieg kurz die Burggasse hinauf und bog nach wenigen Schritten links in die Heidengasse, gelangte ich nach den Umfriedungsmauern und Treppen des „Hotels zur Burg“ auf der rechten sowie der Feuerwache und dem umzäunten obersten Abschnitt unseres Gartens auf der linken Seite sehr bald zur Alten Postgasse, die zur Mainzergasse und damit zum Marktplatz hin abzweigte. An dieser Abzweigung hatten Ferdinand Noll und sein Sohn Otto eine kleine Werkstatt, in der sie aus Natur- und Kunststeinen Grabsteine entstehen ließen. Diese Werkstatt war häufig mein Ziel, denn Ferdinand, der â€žOnkel Noll“ oder der „alte Noll“, wie wir ihn im Unterschied zu Otto, dem „jungen Noll“, nannten, war mein Freund, ließ mich bei den vielfältigen Arbeiten seines Berufs zusehen und übertrug mir auch manch kleine Aufgabe, deren Ausführung bereits in meinen Kräften lag.

Ich war mit meinen fünf oder sechs Jahren längst in dem Alter, die Gegend um unser Haus und die umliegende Nachbarschaft selbständig auszukundschaften, und neben unserem Garten gehörte das von breiten Mauern umringte Gelände der Totenkirche ebenso zu meinen Spielplätzen wie die Werkstatt der Nolls oder die Bahnhofsgaststätte meines Großvaters. Kinderspielplätze gehörten noch der Zukunft an und hätten wohl auch kaum mithalten können mit dem, was sich hier überall an aufregenden Eindrücken und Erfahrungen bot. Öfters lief ich auch das enge kleine, bei unserem Hühnerstall beginnende Rahmgässchen hinab zu den Schwalmwiesen, wo es eine Färberei gab, aus der es meistens mächtig dampfte, oder nahm den Schwarzen Weg zur großen Eisenbahnbrücke, wo im Winter riesige Eiszapfen in schwindelnder Höhe an den Gewölben hingen.

Ãœberall stieß ich auf bekannte Gesichter oder selbst auf Verwandtschaft, und nie hatte ich das Gefühl, mich verirren oder verloren gehen zu können. Größere Entfernungen mied ich jedoch, da meine Beine noch kurz waren und ich stets den Rückweg zu bedenken hatte, ich gewiss aber auch gefühlsmäßig nicht allzu weit abkommen wollte von unserer Wohnung als sicherem Hort. Der Schwalmberg, die Lehmkaute oder Hephata lagen damit stets außerhalb meiner Reichweite, wie überhaupt fast alles jenseits der Schwalm und Wiera und damit außerhalb des Treysaer Stadtkerns Befindliche. Jenseits der Bahnlinie beschränkte ich mich auf das Gebiet des Friedhofs und der Ascheröder Straße, in der auch der großelterliche Garten, die Haaßsche Brauerei, das Haus des Lehrers Wetzel und des Bürgermeisters Hohmeyer oder die Oberschule gelegen waren und für Abwechslung sorgten. Die Steinmetze Noll wohnten dagegen fast schon um die Ecke, und man kam, wollte man keinen Umweg machen, stets an ihnen vorbei, sobald man zum Bahnhof oder zu Billecke, unserem Lebensmittelgeschäft in der Mainzergasse gehen wollte.

Mag es auch schaurig anmuten, hier immer wieder vom Friedhof, der Totenkirche mit ihrer Knochenkammer und jetzt auch noch der Nollschen Grabsteinwerkstatt zu hören, so berührten mich diese Dinge als Kind keineswegs wie einen Erwachsenen, da ich gar nicht recht wusste, was es bedeutete, wenn ein Mensch stirbt. Die Sache war zu abstrakt, zu entfernt und gleichgültig, da doch überwiegend die alten Leute starben und der Vorgang, wie ich später bemerkte, selbst den Erwachsenen größtenteils unverständlich war. Von Toten hatte ich immer nur gehört und wusste vor allem, wo und wie sie begraben wurden, hatte aber nie einen aus der Nähe gesehen – oder nur einmal kurz, als ich zufällig auf der Ziegenhainer Landstraße einen toten Mann als Opfer eines Verkehrsunfalls am Straßenrand liegen sah. Man führte mich jedoch schnell weg vom Ort des Geschehens, was aber meine Neugierde verständlicherweise nur steigerte. Trauer, Schmerz oder das Gefühl eines Verlustes konnten jedenfalls nicht aufkommen, denn das Gesehene hatte ja eigentlich nichts mit mir zu tun.

Auch bei den Nolls wurde kein Wort darüber verloren, wer gestorben war und wessen Name auf die Grabsteine zu stehen kam. Das Behauen der Steine und ihre Beschriftung, die Werkzeuge und Materialien, die anzuwendenden Techniken und notwendigen Vorbereitungen sowie das Bemühen, die Arbeiten sauber und gemäß den Wünschen der Kundschaft auszuführen, waren das Einzige, das interessierte. Natürlich kann ich mich nicht mehr an die Namen auf den Steinen entsinnen, doch auch heute noch müssten manche dieser Grabmale aus Nolls Werkstatt auf dem Treysaer Friedhof zu finden sein.

Nicht entfallen ist mir, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Verfahren gab, um die Namen und Daten, Kreuze, Palmwedel und anderes dauerhaft auf die zumeist schwarzen oder grauen und spiegelglatt polierten Steine zu schreiben. Das eine bestand darin, die vorgezeichneten Schriften und Verzierungen mit kleinen Meißeln als Vertiefungen in den Stein zu graben und anschließend mit einem feinen Pinsel und Goldfarbe auszumalen. (Einmal stieß ich in meinem Eifer des Zusehens die Goldfarbe um und entfloh schnell nach Hause, da mir das Gold ja als so wertvoll erschien und ich nicht wusste, wie ich den angerichteten Schaden wiedergutmachen sollte. Mehrere Tage ließ ich mich nicht in der Werkstatt blicken. Doch als ich mich zurückwagte, sprach schon niemand mehr von dem Malheur, und alle taten, als sei nichts geschehen.) Eine Variante der genannten Technik meißelte nicht die Schrift, sondern die sie umgebenden Flächen heraus, so dass die Buchstaben freigestellt wurden und dieselbe glatte Oberfläche wie die großen Flächen des Steines erhielten.

Das zweite Verfahren bestand darin, bronzene Buchstaben, die mit Haltestiften an der Unterseite versehen waren, auf dem Stein zu anzubringen, so dass sie sich abhoben. Auch hier waren genaue Vorzeichnungen notwendig, und häufiger sah ich Otto Noll mit ernstem Gesicht sich über die flach liegenden Steine beugen und mit Schablonen, Linealen und großen Papierbogen darauf hantieren, um diese ihm vorbehaltenen Arbeiten auszuführen. Dann bohrte er mit einem besonderen Handbohrer kleine Löcher in den Stein, in welchen die Buchstabenstifte versenkt und schließlich mit einem speziellen Zement oder Kitt befestigt wurden.

Neben der Herstellung der eigentlichen Grabsteine mussten für diese, da man sie nicht auf die bloße Erde stellen konnte, auch Fundamente oder Sockel angefertigt werden. Und ebenso wünschten manche Kunden, das Grab ihrer Angehörigen mit einer festen steinernen Einfassung zu versehen, so dass auch hierfür verschieden große Quader und Platten in eigens verfertigten Formen zu gießen waren. Vieles darunter dürfte aus mit Kies vermischtem Mörtel bestanden haben, denn noch immer habe ich die große Wanne vor Augen, in welcher, unter Zuhilfenahme einer langstieligen Gartenhacke, das zuvor hergestellte Gemisch von Sand und Zement kräftig mit Wasser verrührt wurde, bis ein zäher grauer Brei entstanden war.

Die Sandhaufen, die um die Werkstatt herum lagerten und immer wieder aufgefüllt wurden, waren mir eine willkommene Ergänzung unseres eigenen Sandkastens am Rande des Hauses, aber mehr noch zogen mich die Kieshügel an, denn hier fand ich manch schönen, durch Färbung oder Zeichnung auffallenden Stein. Wie glatt und rund sie alle waren, wie weich sie trotz ihrer großen Härte in der Hand lagen und wie ihre Farben auflebten, sobald es regnete oder man sie ins Wasser tauchte! Selbst heute, mehr ein halbes Jahrhundert später, besitze ich noch einen kleinen Achat, den ich einst in einem solchen Kieshaufen bei den Nolls fand, als eines der alten Andenken aus dieser Zeit und der, sieht man von meinen Kinderzeichnungen ab, vielleicht sogar mein ältestes Erinnerungsstück überhaupt ist.

Die Transportfrage, die bei Werkstätten dieser Art und dem erheblichen Gewicht der darin verwendeten Materialien eine große Rolle spielt, war durch ein kleines Pritschenauto gelöst, das wohl nur ein mitleidiges oder nostalgisches Lächeln hervorrufen würde, würde man heute eines solchen Gefährts auf einer Straße ansichtig. Jedermann würde sich nach ihm als einer Besonderheit und einem Relikt aus alten Tagen umdrehen, und lange würde man noch den bläulichen Qualm riechen, den sein Auspuff entließ. Es hatte damals seine besten Tage wohl lange schon hinter sich, aber es fuhr und erfüllte brav seine Aufgaben. Sein herausragendes Merkmal war, dass es nur auf drei Rädern fuhr – vorne mit einem unter der Motorhaube, hinten zweien unter der Ladefläche. Wer einmal ein Bild des Goliath-Dreiradwagens von Borgward gesehen hat, kann sich eine ungefähre Vorstellung machen, um welche Art von Fahrzeug es sich gehandelt hatte. Die Gangschaltung war ein abgewinkeltes Rohr, das recht abenteuerlich zu bewegen war, und nach dem Kippen eines Schalters am Armaturenbrett schnellte seitlich an den Türen ein kleiner orangefarbener Winker aus dem Auto, um das Abbiegen anzukündigen. In diesem Auto durfte ich offiziell mitfahren, wenn es galt, neue Zementsäcke oder anderes Baumaterial aus einer der umliegenden Ortschaften wie Gilserberg oder Allendorf zu holen oder etwas Bestelltes abzuliefern, und da wir selbst noch kein Auto besaßen, sondern eben nur ein Motorrad mit Beiwagen, waren solche Fahrten natürlich besondere Höhepunkte.

Der alte Noll war zu dieser Zeit vielleicht um die sechzig Jahre, möglicherweise auch schon etwas älter – als Kind tut man sich schwer mit dem Schätzen des Alters. Er war nicht sehr groß und trug fast immer eine alte blaue Jacke, ausgebeulte Hosen und eine Schiebermütze, und man sah ihm den Handwerker und Arbeiter schon von weitem an, denn alles an ihm war grau und staubig. Da ein fröhliches Gesicht in alten Kleidern jedoch mehr Schönheit zu haben vermag als ein grämliches in neuen, war allein die Zweckmäßigkeit dieser Kleidung wichtig. Seine Augen schienen freilich ständig etwas zu blinzeln, was eine Folge des vielen Stein- und Zementstaubs gewesen sein mag, in dem er sich stets bewegte. Dieses Blinzeln verlieh seinem faltigen Gesicht zugleich aber etwas Freundliches und Gutmütiges.

Freundlich und gutmütig empfand ich auch sein Verhalten zu mir, denn er ließ mich nicht nur an den Arbeiten teilnehmen, sondern nahm mich gleichsam in seine Familie auf, wenn wir am Vormittag ein gemeinsames Frühstück in seiner Küche verzehrten (er wohnte gegenüber von seiner Werkstatt). Dieses Vesper, das seine Frau hergerichtet hatte, war nichts Großartiges, sondern ganz einfaches Essen, das man auch in die Hand nehmen durfte – sauer eingelegte Gurken, Karotten und Zwiebeln, Handkäse und Schwartenmagen, und ein Stückchen Brot dazu. Aber Onkel Noll hatte eine Art, diese Kost mit neuen Namen zu belegen, die aus ihr etwas ungewöhnlich Schmackhaftes, uns allein Vorbehaltenes machte, und so wurden die Gurken zu „Teufelsgürkchen“, der Schwartenmagen zur „bullerigen Wurst vom Elefanten“ und wieder etwas anderes zum „Kribbel-di-krabbel-die-Wand-rauf“. Solches Spiel vergnügte mich sehr, und ich sah dem Frühstück immer voller Erwartung entgegen, auch wenn ich noch gar keinen Hunger hatte.

Ob Onkel Noll an irgendwelche sozialistischen oder andere Ideen aus der Arbeiterbewegung glaubte, weiß ich nicht; doch er nannte uns, halb im Scherz und halb im Ernst gerne „die Proleten“, die, gehörte man zu ihnen, zusammenhielten und die ihrem Beruf Ehre machen mussten. Nicht das Äußere, das Aussehen, die von der Arbeit bestimmte und oft hart in Mitleidenschaft gezogene Kleidung waren entscheidend, sondern das Gefühl der Verbundenheit, der Wunsch, füreinander dazusein, und die Bereitschaft, sich gegenseitig zu achten, ob man nun alt oder jung, dick oder dünn, hübsch oder hässlich, arm oder reich war. Diese Haltung verstand ich als Kind bereits, zumal sie mir nicht theoretisch auseinandergesetzt wurde, sondern sich ganz in ihrer praktischen Anwendung zeigte.

Als wir schon in Mannheim wohnten, aber noch immer durch den „Schwalmboten“ über das Geschehen in Treysa auf dem Laufenden blieben, lasen eines Tages, es mag in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gewesen sein, mein Vater oder meine Mutter beim Durchsehen der Todesanzeigen aus der Zeitung vor, dass der Onkel Noll gestorben sei. Ich konnte nichts dazu sagen, doch ging ich aus dem Zimmer und vergoss heiße und bittere Tränen.

 

 

Dreizehntes Kapitel
Die Generalprobe

Noch in die Treysaer Zeit fällt ein Ereignis, das wir im Familienkreis später nur die Generalprobe nannten und das sich mir besonders einprägte. Es muss kurz vor einem Jahreswechsel stattgefunden haben, und vermutlich war ich fünf oder sechs, meine Schwester entsprechend acht oder neun Jahre alt.

Meinem Vater bereitete es damals großen Spaß, mit allerlei Silvesterknallern, Böllern, kubanischen Donnerschlägen, speienden Vulkanen, Raketen und anderem Feuerwerk zu hantieren und einige von ihnen auch vor dem eigentlichen Zeitpunkt, für den sie bestimmt waren, zu zünden, um sich und die anderen – Familie und Hausbewohner, Nachbarn und Passanten – auf die Silvesternacht einzustimmen. Zu solchen Vergnügen, bei denen er zuweilen ein recht forsches Vorgehen an den Tag legte und die, aus sicherem Abstand betrachtet, nicht ganz ungefährlich waren, gehörte etwa, dass er einmal in unserer Küche mehrere Knallfrösche ansteckte, zu Füßen von Henner Deist, einem Kollegen aus Hephata, der im Krieg ein Bein verloren hatte. Dieser verdarb uns die Freude jedoch nicht, sondern hüpfte und humpelte nach Vermögen mit seinem Stock zwischen den zerfetzenden Knallkörpern umher und spielte den zutiefst Erschrockenen.

Bedenken, dass hier bei dem zunächst Betroffenen an alte Wunden gerührt werden könnte, kamen meinem Vater anscheinend nicht oder wurden überspielt. Der Schabernack, mehr leichtsinnig als bösartig, ergötzte ihn, und er erfreute sich der allgemeinen Zustimmung, des Lachens und der guten Laune wie seiner eigenen Rolle als Veranstalter und Mittelpunkt dieses frohen Aufruhrs. Selbst in Mannheim noch kaufte er in närrischen Zeiten, wenn ihn der Hafer stach, immer wieder einmal sogenannte Scherzartikel, etwa eine watteähnliche Substanz, die man unauffällig in einem Aschenbecher platzierte und aus der beim Abstreifen der Zigarettenasche eine Stichflamme emporschoss; oder eine besondere Art von Würfelzucker, die alsbald auf dem Kaffee oder Tee eine täuschend echt aussehende Fliege schwimmen ließ. Und da gab es ein Fläschchen mit königsblauer Spezialtinte, die mein Vater dem evangelischen Pfarrer des Gefängnisses in Mannheim nach dem Beiseiteschieben der Krawatte auf seine weiße Hemdbrust kleckerte, die unter Einwirkung der Luft aber nach wenigen Minuten wieder restlos verschwand. Der Pfarrer, ein älterer Herr, der im Krieg Major gewesen war, war ob solcher Dreistigkeit zuvörderst bass erstaunt, und das einzige, was er zu sagen imstande war, war ein so vorwurfsvoll betretenes wie leidvolles „Aber Herr Doktor Henck ...!“ Als die Tinte dann aber verblasste, erkannte er bald den Scherz und erholte sich von seinem Schrecken. Einem Nervenarzt, auf den womöglich das ein oder andere seiner Patienten schon abgefärbt hatte, ließ sich ein solch befremdliches Benehmen leichter nachsehen, zumal Nachsicht, Hinnahme und Geduld zu den standesgemäßen Tugenden eines Geistlichen gleich welcher Konfession gehören.

Die Treysaer Generalprobe fand zu vorabendlicher Stunde in unserem Mittelzimmer statt, das der Länge nach zu dem ausgebauten Zimmerchen unter dem Balkon von Hilde Ferber führte und von dem nach rechts das Wohnzimmer, nach links das Schlafzimmer der Eltern abzweigten. In diesem schmalen Durchgangsraum, baulich das „Hauptschiff“ und der Dreh- wie Angelpunkt der Wohnung, in dem wir uns gleichwohl sehr viel seltener als in der Küche aufhielten, stand auch unser Klavier. Runde Kerzenhalter aus Messing hingen an der Wand und versprachen Feierlichkeit bei gegebenem Anlass, ein Flickenteppich bedeckte den Boden. Die Mitte nahm ein großer rechteckiger Ausziehtisch ein, an dem sonntags gegessen, ansonsten gelegentlich gespielt oder gebastelt wurde.

Mein Vater hatte eine ganze Reihe von Scherzartikeln eingekauft, von den Knallerbsen angefangen, die auf den Boden zu schmettern waren, bis zu einigen Raketen, die sich, aus leeren Weinflaschen gestartet, hoch in die Lüfte der Dezembernacht erheben und dort das neue Jahr mit buntem Feuerregen und Funkenschweif begrüßen sollten. Doch sei es, dass das Wetter zu stürmisch und regnerisch war, um etwas im Freien zu testen, es vielleicht auch stark schneite und kalt war, oder er nur dem Drang nicht widerstehen konnte, die Wirkung wenigstens einiger dieser Freudenspender unverzüglich zu erproben – jedenfalls trommelte mein Vater die Familie als kleines, aber dankbares Publikum zusammen, damit es die neuen Errungenschaften bestaune und teilnehme an ihren Effekten, die er vorzuführen gedachte.

Wie es so oft geschieht, bereitete das gänzlich unvorbereitete Unternehmen, das der Lust und Laune des Augenblicks entsprang, viel mehr Vergnügen als manche durch hoch geschürte Erwartungen belastete Festlichkeit, die kalendarisch angesagt war, bei der jede Unvorhergesehenheit und Abweichung vom Protokoll den sorgfältig bedachten Ablauf ins Wanken bringen konnte und daher oft genug Anlass zu Gereiztheit, Ungeduld oder Ärger war – zumal wenn sich Gäste angesagt hatten und die Zeit bis zu ihrem Eintreffen knapp wurde. So hörte man als Kind schon wochenlang vor dem eigentlichen Ereignis von dem immer näher rückenden Ostern reden. War der Tag des Festes aber gekommen, stellte allenfalls noch das Suchen der Ostereier im Garten unter den aufmunternden Blicken und heimlich richtungweisenden Gesten der Erwachsenen eine Abwechslung dar. Die festliche Mittagstafel, um deretwillen man bereits so früh hatte aufstehen müssen, war nur für die Erwachsenen ein Höhepunkt, denn infolge der zuvor reichlich genossenen Süßigkeiten mangelte es an Appetit, und das Essen schmeckte nicht mehr so recht trotz der schon am Tag zuvor begonnenen Vorbereitungen. Allenfalls der Pudding oder das Kompott waren noch von Interesse. Auch hatte man sich sonntäglich kleiden müssen und wurde bei Tisch nun ständig ermahnt, auf den Löffel zu achten und ihn schön gerade zu halten, damit die Suppe nicht auf die gute Hose schwappe. Christus und die Auferstehung, an die der Feiertag erinnern sollte, wurden nach einem immer etwas peinlichen Karfreitag und seiner unverzichtbaren mittäglich obligatorischen Fischmahlzeit mit keiner Silbe mehr erwähnt. Zwar kannte ich aus dem Gottesdienst einiges von den Geschehnissen um Jesus, wusste aber nichts Rechtes damit anzufangen. Und da niemand mir die Zusammenhänge erklärte, fragte ich mich schließlich, ob die Auferstehung des Fleisches, von der ich öfters hatte sprechen hören, nicht etwas mit dem Fleisch auf meinem Teller zu tun habe, dem Stückchen Rindfleisch, der gefüllten Roulade oder dem panierten Kotelett. Aber was sollte da auferstehen? Oder war hier von Dingen die Rede, die nur auf den harten Bänken der Kirche Gültigkeit besaßen? Und was hatte das alles mit den bunten Ostereiern zu tun, die die Eltern versteckten und die man dann suchen musste, die nach dem Pellen aber merkwürdig fleckig und unappetitlich aussahen, bedenklich rochen und deren bröckelndes, fast olivfarbenes Eigelb scheußlich trocken schmeckte? Oder was war das mit den Osterhasen und ihrer Eierkötze? Warum sah man sie immer nur auf Abbildungen, nie aber in Wirklichkeit? In meinen Bilderbüchern gab es sie doch zu Hauf, wie sie zu Ostern gewaltige Räder aus leckerem Marzipan heranwälzten, die Hügel hinab, vorbei an der Mühle und dann über die Wiesen.

Doch zurück zu dem Tisch, um den sich unsere Familie erwartungsfroh versammelt hatte und an dem wir der kleinen knallenden Wunder und krachenden Scherze harrten, die mein Vater auf einem Küchentablett in exotisch bunt bedruckten Schächtelchen, Tütchen und Döschen nun herbeibrachte. Alles wurde ausgepackt, betrachtet, begutachtet und sogar berochen, um eine Vorstellung von dem Scherz oder der Art der Wunder zu gewinnen, die darin enthalten sein mochten. Schon griff mein Vater zu den Streichhölzern und brachte an einer ersten Tischkanone den kleinen aus dem Papprohr ragenden Docht zum Glimmen. Alle warteten gebannt, doch zunächst geschah gar nichts, dann aber gab es einen ordentlichen Knall, und aus dem mit dünnem Seidenpapier abgedeckten Oberteil der Kanone fuhr eine Ladung Konfetti und Papierkugeln ins Zimmer, begleitet von einem kleinen Gegenstand, einem Püppchen, einer Blume oder Haarspange aus Plastik, einem billigen Ring oder Spiegelchen oder etwas anderem, das sich manchmal erst Wochen, ja Monate später hinter dem Klavier oder in sonst einer dunklen und dem Besen oder Staubsauger unzugänglichen Ecke fand. In der Hauptsache waren es aber kleine Glücksbringer wie Schornsteinfeger, Fliegenpilze, Marienkäfer, Kleeblätter oder rosa Schweinchen aus den unterschiedlichsten Materialien, die hervorschossen und den Empfängern eine stets rosige Zukunft kündeten.

Ähnliches kam aus sogenannten Knallbonbons zum Vorschein, wenn man sie zu zweit an den Enden fasste und kräftig auseinander zog: Plötzlich gaben sie nach und rissen, von einem Schuss begleitet, in der Mitte entzwei, und in einer der beiden Hälften des Rohres steckte dann die kleine Ãœberraschung der beschriebenen Art. Auch hier erhöhte verstreutes Konfetti die Wirkung.

Besonderen Eindruck machten uns kleine schwarze Zylinder, die nur wenig größer waren als ein Spielwürfel und von uns liebevoll die Gackshütchen genannt wurden. Sie klebten auf einem runden Stückchen schwarzer Pappe, die zugleich die Hutkrempe darstellte, und wurden am oberen Rand, an den man ein brennendes Streichholz hielt, entzündet. Brannte der Zylinder, quoll und wand sich aus seinem Flammensaum unter stetiger Rauch- und Rußentwicklung eine schwarzgraue Aschewurst hervor, die zu unserem wachsenden Erstaunen länger und länger wurde und gar kein Ende mehr nehmen wollte. Sie schob sich über den Tisch, zog Kreise, warf Spiralen, und ihre Ringe türmten sich wie bei einer Achterbahn übereinander, ließen sich aber auch lenken und abbrechen, ohne jedoch gebremst werden zu können, so dass man sich bald fragte, wie das alles in dem winzigen brennenden Hütchen zu stecken vermochte. Ähnlich wie die Zylinder funktionierten Figürchen aus Gips, hockende Männchen oder fette Schweinchen, denen man eine in Silberfolie gerollte Ladung ins Hinterteil steckte und dort entzündete, worauf sie zu unserem Vergnügen ellenlange Würstchen produzierten.

Schließlich war alles durchprobiert und getestet, hatte Anklang und Bewunderung gefunden und manch freudigen Schreck ausgelöst. Das Zimmer roch nach Pulverschmauch; Konfetti, bunte Papierkugeln, abgebrannte Streichhölzer und die kleinen Ãœberraschungsgaben waren über Tisch und Boden verstreut, die schwarzen Aschewürste waren auf einem Tablett gesammelt. So hätte die kleine Vorstellung ihren friedlichen Abschluss finden können, wäre nicht mein Vater, dem die Sache wohl zu früh zu Ende ging, auf die Idee verfallen, das bereits Erlebte um noch eine weitere Attraktion zu steigern. Zu diesem Zweck tat er etwas, das er besser nicht hätte tun sollen, doch da man bekanntlich nur aus Schaden klug wird, entzündete er eine jener Raketen, die eigentlich nur für den Gebrauch im Freien bestimmt waren. Wir kamen freilich mit einem blauen Auge davon. Denn was sich zu unserem allseitigen Entsetzen, gewiss auch unserem kindlichen Vergnügen, plötzlich zur völligen Unkontrollierbarkeit verselbständigte und quer durch das Zimmer über Kisten und Kasten zischte, hier an die Wand über dem Klavier prallte, in Richtung der gegenüber liegenden Kerzenleuchter zurückschoss und in wildem Zickzack dann bald hier-, bald dorthin raste und uns schnell unter der Tischkante Deckung suchen ließ, all das war so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Wir blickten uns um und atmeten auf. Niemand war verletzt worden, die Gardinen hatten kein Feuer gefangen, kein Kissen war versengt, keine Vase umgefallen, keine Fensterscheibe zu Bruch gegangen, das Klavier und die Bauernmöbel waren heil geblieben. Etwas mulmig war uns freilich schon geworden, und später, wenn man dieser Generalprobe gedachte, schlug man die Hände über dem Kopf zusammen: Oh weh, was da alles hätte passieren können! Man durfte gar nicht darüber nachdenken …

 

Teil 1 (Anfang)

 

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Freitag,  4. März 2005
Letzte Änderung:  Donnerstag,  3. November  2016

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