Josef Matthias Hauer
1883–1959
Klavierwerke (II)
September bis Dezember 1921
Präludium für Celesta September 1921
Melodien für Klavier (Celesta) oder Harmonium
Oktober 1921 Dr. Emil Klein gewidmet
Melodien für wohltemperierte Instrumente [I] 18. Oktober 1921 Dr. Franz Höllering gewidmet
Melodien für wohltemperierte Instrumente [II] op. 34 29. Oktober 1921 Frau Dr. Eugenia Schwarzwald gewidmet
Barockstudien für Klavier
3. Dezember 1921 Albert Linschütz gewidmet
Präludium für Celesta
17. Dezember 1921 Otto Stoessl gewidmet
Kommentar
Gesamtdauer: ca. 30 Minuten
K o m m e n t a r
Die hier versammelten, zwischen September und Dezember 1921 entstandenen Stücke Josef Matthias Hauers, deren Gesamtdauer etwa eine halbe Stunde beträgt, haben als gemeinsame Grundlage die zwölftönige Atonalität, wie sie der Komponist erstmalig in seinem Klavierwerk Nomos op. 19 (August 1919) verwirklicht hatte. Keines der Stücke ist mit einer Lautstärke- oder Tempovorschrift versehen, und zur Frage der interpretatorischen Gestaltung findet sich lediglich die Angabe
„Vortrag [Ausdruck] je nach dem Melos“.
Nach Hauers Vorstellungen bildete sich die von ihm noch vor Schönberg entwickelte Zwölftönigkeit am
reinsten auf wohltemperierten Instrumenten wie Klavier, Celesta oder Harmonium ab, auf denen die Intervalle in idealen, ebenmäßigen Abständen vorlagen und seinem Bedürfnis nach Vermeidung jedes Gefühls von
Grundtönen oder harmonischen Schwerpunkten am vollkommensten entsprachen. Hauer bestand darauf, dass seine übliche heutige Stimmung das Klavier zu einem „atonalen Instrument“ mache.
Keines dieser Stücke hat ein Thema im herkömmlichen Sinne, und im Prinzip sind alle einstimmig.
Treten begleitende Akkorde auf, fassen diese die Melodietöne eher zusammen, als dass sie kontrastierende Aufgaben übernähmen. Indes erzeugt Hauer durch das Aushalten einzelner Melodietöne und ihre rhythmische
Überlagerung immer wieder eine Mehrstimmigkeit zweiten Grades. Am deutlichsten wird dies in dem letzten Stück der Gruppe, dem zweiten Präludium für Celesta, das zugleich eines von Hauers konsequentesten
Werken in jener Zeit darstellt: Die zwölf Töne erscheinen sukzessiv in gleichförmiger Fortschreitung, stets einstimmig beginnend, stets infolge solcher Stimmenüberlagerung dreistimmig endend. Dieses geschieht
48-mal innerhalb von zwei Takten (zu je 6 + 6 Tönen), so dass sich 48 x 12 = 576 gleichmäßige Anschläge (und ein Schlussakkord) ergeben. Alles bewegt sich im Tonraum von nur zwei Oktaven.
Man darf von diesen äußerst reduzierten Stücken keine Dramatik und Expressivität erwarten, wie man sie
etwa aus Schönbergs Werken oder denen der Spätromantik kennt. Hauers musikalischer Ansatz ist viel radikaler und entzieht sich weit stärker der Tradition als fast alle andere Musik seiner Zeit. Das verwendete
musikalische Material, die zwölftönigen Melodien, das „Melos“ entfaltet gewissermaßen ganz die ihm eigenen Kräfte, und die gestaltende Person des Komponisten tritt immer stärker in den Hintergrund, eine
Haltung, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg auch in der „neuen Sachlichkeit“ der Literatur oder in den konstruktivistischen Arbeiten bildender Künstler (Mondrian, Bauhaus-Bewegung) zu beobachten
ist.
In späteren Jahren steigerte Hauer dieses kompositorische Verfahren noch weiter in seinen
„Zwölftonspielen“ (seit August 1940) und bezog bewusst auch Elemente des Zufalls bei der Erzeugung von Zwölftonreihen ein. Die Funktion des gestaltenden Komponisten wandelte sich dabei immer mehr zu der eines
überpersönlichen „geistigen Urhebers“, welcher die dem Material innewohnenden kosmischen Gesetze freisetzt und zu einer Art des spirituellen Mediums wird.
Außer dem ersten Präludium für Celesta findet sich keines der hier aufgeführten Stücke in den bekannten Werkverzeichnissen von Hauer; eine Kopie der Manuskripte wurde von Hauers Sohn Bruno im Jahre 1984 an Björn Nilsson in Borås (Schweden) gesandt,
der sie seinerseits dem Verfasser dieser Zeilen zur Verfügung stellte.
Herbert Henck März 2001
Zur weiteren Information
Buchpublikation Fürsprache für Hauer Aufsätze über Hauer: CD-Einführungstext J. M. Hauers »Harmonie der Sphären« Hauers wiederentdeckte Schrift »Zwölftonmusik«
Aufsatz im Internet: Josef Matthias Hauers »Musik der Sphären« Schallplatteneinspielung (WERGO)
Letzte Änderung: Samstag, 14. Juni 2014
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